20143Benjamin.indb I 20143Benjamin.indb I 06.05.2011 7:36:01 Uhr 06.05.2011 7:3

20143Benjamin.indb I 20143Benjamin.indb I 06.05.2011 7:36:01 Uhr 06.05.2011 7:36:01 Uhr 978-3-476-02276-9 Lindner, Benjamin-Handbuch/Sonderausgabe © 2011 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de) 3 Weltkrieg und Revolution: Auf der Suche nach einem neuen System der Metaphysik Walter Benjamin, geboren 1892, stammt aus einer großbürgerlichen Familie; sein Vater war als Kauf- mann, Auktionator und Aktionär zu einem beträcht- lichen Vermögen gekommen. Benjamins Kindheit, Schulzeit und Universitätsstudium verlaufen, soziolo- gisch betrachtet, nicht ungewöhnlich für einen Sohn aus einer wohlhabenden deutsch-assimilierten jüdi- schen Familie. In der Berliner Kindheit um neun- zehnhundert blickt Benjamin literarisch darauf zurück, wie er behütet und gut situiert in einer Berliner Villenwohnung aufwächst. Sowohl jüdische als auch christliche Feiertage werden in seiner Familie began- gen; seine Eltern ermöglichen es ihm, seinen eigenen Weg zu gehen. Später sind sie allerdings nicht damit einverstanden, daß Benjamin keinen regulären Beruf ergreift. Dem akademischen Lehrbetrieb steht Benjamin von Anfang an distanziert gegenüber. Schon in seiner Schulzeit entwickelt er ein kritisches Bewußtsein für die gängige hierarchische Ordnung zwischen Schülern und Lehrern. Von 1904 bis 1907 besucht Benjamin das Landerziehungsheim Haubinda. Die dort im Vorder- grund stehende Gleichberechtigung von Schülern und Lehrern, vor allem aber die Bekanntschaft mit dem Pädagogen Gustav Wyneken, hinterlassen einen nach- haltigen Eindruck beim jungen Benjamin und legen den Grundstein für sein späteres Engagement in der Jugendbewegung. Als Anhänger Wynekens tritt Ben- jamin zwischen 1912 und 1914 für eine Reform der Schule und Erziehung ein. Verbunden mit der Schulreformbewegung ist die Zeitschrift Anfang und der sogenannte Sprechsaal, ein von Benjamin initiierter Versammlungs- und Diskus- sionsort. Im Oktober 1913 nimmt er an der Jahrhun- dertfeier der »Freideutschen Jugend« auf dem Hohen Meißner teil. Unter dem Eindruck dieses Treffens ent- steht der Text Die Jugend schwieg, in dem Benjamin seinem Unmut über die nationalistische und militari- stische Einstellung einzelner Gruppierungen der Ju- gendbewegung Ausdruck verleiht. Benjamin tritt mit hohen Erwartungen an die uni- versitäre Institution und ihre Angehörigen heran, die aber bald enttäuscht werden. Er bemerkt 1914 in ei- nem Brief an Herbert Blumenthal: »Die Hochschule ist eben nicht der Ort, zu studieren« (1, 242). 1914 führt die Kriegsbegeisterung Wynekens zum Bruch Benjamins mit der Freistudentischen Bewegung, dem Anfang und dem Sprechsaal. Seine distanzierte Hal- tung gegenüber dem akademischen Lehrbetrieb äußert sich in seiner mit Scholem spielerisch erfundenen Uni- versität Muri. Sie entwerfen zum Scherz ein Vorle- sungsverzeichnis dieser imaginären Universität, das unter anderem Seminare von Sigmund Freud »Woher kommen die kleinen Kinder« oder A. von Harnacks »Das Osterei. Seine Vorzüge und Gefahren« ankündigt (IV, 441 ff.). Schon früh entdeckt Benjamin seine Leidenschaft für das Reisen; in die Zeit bis 1923 fallen viele Aus- landsaufenthalte, die Benjamin nach Italien, Frank- reich und in die Schweiz führen. 1912 unternimmt er über Pfingsten eine Norditalienreise nach Mailand, Verona, Vicenza und Venedig. In Vicenza sieht er Pal- ladios Bühnenbild »Die Straße«, das ihn nachhaltig beeindruckt. Ein Jahr später besucht er zusammen mit Kurt Tuchler zum ersten Mal Paris. Diese Reisen finden ihren literarischen Niederschlag in der Form des Ta- gebuchschreibens (VI, 229–292). Bereits für Benjamins frühe Arbeiten ist ihre theo- logisch-metaphysische Dimension kennzeichnend, die aus heutiger Sicht unvertraut erscheinen mag. Der traditionsreiche philosophische Begriff Metaphysik, der mit Namen wie Aristoteles und Kant verbunden ist, hat heute eine Diskreditierung erfahren. Aus die- sem Grund muß er als philosophischer Horizont, in dem sich das Denken des frühen Benjamin situiert, ins Gedächtnis gerufen werden: Die Versuche in den 1910er Jahren, Philosophie theologisch und metaphy- sisch zu fundieren, können als Reaktion auf eine viel- fach diagnostizierte Kulturkrise betrachtet werden. In diesem Kontext stehen Arbeiten Benjamins wie Über das Programm der kommenden Philosophie oder Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. Auch Benjamins spätere Texte bis hin zu den Thesen Über den Begriff der Geschichte klammern die Theologie keineswegs aus. Signifikant ist, daß Benja- min später, in einem Brief an Adorno aus dem Jahr 1. Zeit und Person Von Nadine Werner 20143Benjamin.indb 3 20143Benjamin.indb 3 06.05.2011 7:36:01 Uhr 06.05.2011 7:36:01 Uhr 4 1935, von einem »Umschmelzungsprozeß« spricht, der die »ganze, ursprünglich metaphysisch bewegte Ge- dankenmasse« im Laufe der Arbeit am Passagenprojekt betrifft (5, 98). Insofern ist es nicht angemessen, Benjamins Biogra- phie als einen mühsamen Weg von der metaphysischen Spekulation zum politischen Engagement zu begrei- fen. Zum einen wirken die metaphysisch-theologi- schen Impulse in seinen späteren Arbeiten weiter fort; zum anderen hat auch umgekehrt der Anspruch des Politischen in seinem Denken von Anfang an eine ent- scheidende Rolle gespielt, wie sein frühes Engagement für die Jugendbewegung zeigt. Mit der Zeit verändert sich lediglich die Ausrichtung seiner politischen Tä- tigkeit, wenn diese sich bald und dann bis zuletzt im Kontext eines radikalen Kommunismus spiegelt. 1892: am 15. Juli wird Walter Bendix Schönflies Ben- jamin in Berlin, als ältestes von drei Geschwistern, geboren. 1910: im Sommer Veröffentlichung erster Gedichte und Aufsätze im Anfang. 1912: Abitur und Beginn des Studiums der Philoso- phie und Philologie in Freiburg, Besuch der Vorlesun- gen von Heinrich Rickert »Darwinismus als Weltan- schauung«, Friedrich Meinecke »Allgemeine Ge- schichte des 16. Jahrhunderts«, Jonas Cohn »Das höhere Unterrichtswesen der Gegenwart« und »Phi- losophie der gegenwärtigen Kultur« und Richard Kro- ner »Kants Weltanschauung«. Pfingstreise nach Italien. Engagement in der von Gustav Wynecken initiierten Freistudentischen Bewegung. Studium in Berlin. Ben- jamin hört Georg Simmel, Ernst Cassirer, Benno Erd- mann und Kurt Breysig. Gründung des Sprechsaals. 1913: Studium in Freiburg, Besuch von Rickerts Logik- Vorlesung und dessen »Übungen zur Metaphysik im Anschluß an die Schriften von Henri Bergson«, Jonas Cohns »Über Kants und Schillers Begründung der Ästhetik« und Richard Kroners »Probleme der Natur- philosophie«. Freundschaft mit Fritz Heinle. Pfingst- reise mit Kurt Tuchler nach Paris. Erster Aufsatz über Erfahrung. Reise nach Basel mit Besichtigung von Dü- rers »Ritter«, »Tod und Teufel« und »Melencolia I«. Studium in Berlin, Benjamin wohnt bei seinen Eltern in der Delbrückstraße 23. Beginn der Arbeit Meta- physik der Jugend, die im Januar 1914 fertiggestellt wird. 1914: Studium in Berlin, intensiver Einsatz und Vorsitz der Freien Studentenschaft. Bekanntschaft mit seiner späteren Frau Dora Pollak. Arbeit an Das Leben der Studenten, veröffentlicht 1916. Fritz Heinle verübt gemeinsam mit seiner Verlobten Rika Seligson Selbst- mord. Benjamin widmet ihm die Arbeit über Friedrich Hölderlins Gedichte Dichtermut und Blödigkeit ( Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin). Beginn der Übersetzung von Charles Baudelaires Tableaux Pari- siens. 1915: Bekanntschaft mit Werner Kraft und Gershom Scholem, der einer der wichtigsten, lebenslangen Freunde Benjamins wird. Studium in München, Ben- jamin hört Walter Lehmann, Fritz Strich, Heinrich Wölfflin und den Phänomenologen Moritz Geiger. Begegnung mit Felix Noeggerath und Rainer Maria Rilke. Der Regenbogen entsteht, Aufzeichnungen zu Phantasie u. farbigem Kinderbuch. 1916: Arbeit an Trauerspiel und Tragödie und an Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie, den Urzellen des späteren Trauerspielbuchs, und an Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. Das Glück des antiken Menschen entsteht. Beginn der intensiven Freund- schaft mit Gershom Scholem. 1917: Heirat mit Dora Pollak. Weiterhin Baudelaire- Übersetzung. Studium in Bern, Benjamin hört bei seinem späteren Doktorvater Richard Herbertz, bei Paul Häberlin, Harry Maync und Anna Tumarkin, Besuch der Vorlesung von Gonzague de Reynold über »Charles Baudelaire, la critique et la poète«. Arbeit an Über das Programm der kommenden Philosophie, zu der 1918 ein Nachtrag verfaßt wird. 1918: Arbeit an der Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Geburt seines und Doras Sohnes Stefan Rafael in Bern. 1919: Promotion. Bekanntschaft mit Ernst Bloch. Aus- einandersetzung mit den Eltern: Benjamins Vater ver- langt, sein Sohn solle einer bezahlten Arbeit nachgehen. Benjamin ist dazu nicht bereit. Weiterhin Arbeit an den Baudelaire-Übersetzungen. Plan der Habilitation. Ab- schluß der Arbeit Schicksal und Charakter. 1920: Aufenthalt im Sanatorium in Breitenstein und bei den Schwiegereltern in Wien. Bekanntschaft mit Florens Christian Rang in Berlin. Andauern des Zer- würfnisses mit den Eltern. Veröffentlichung der Dis- sertation. Ende des Jahres: Rückkehr ins Elternhaus. 1921: Fertigstellung und Veröffentlichung von Zur Kritik der Gewalt. Beschäftigung mit dem Vorwort zu den Tableaux Parisens, Die Aufgabe des Überset- zers. Die Ehe mit Dora zerbricht, Benjamin verliebt sich in Jula Cohn. Kauf des Angelus Novus von Paul Klee. Aufenthalt in Heidelberg, Benjamin hört bei Karl Jaspers und Gundolf und begegnet Stefan George im Schloßpark. Scheitern des ersten Anlaufs zum Habili- tationsverfahren. Kapitalismus als Religion ent- steht; ebenfalls das »Theologisch-politische Fragment« spätestens in diesem Jahr. Unterzeichnung des Vertrags für die nie erschienene Zeitschrift Angelus Novus. Wolf Zeit und Person 20143Benjamin.indb 4 20143Benjamin.indb 4 06.05.2011 7:36:02 Uhr 06.05.2011 7:36:02 Uhr 5 Heinle, Ernst Lewy, Florens Christian Rang, Erich Un- ger, Samuel Josef Agnon und Gershom Scholem sollen als Mitarbeiter gewonnen werden. 1922: Abschluß der Arbeit Goethes Wahlverwandt- schaften. Beginn der Arbeit an Ursprung des deut- schen Trauerspiels. 1923: Aufenthalt in Frankfurt, Krise der Freundschaft mit Scholem. Bekanntschaft mit Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer. Auswanderungspläne. Erschei- nen der Übersetzung von Baudelaires Tableaux Pari- siens. Rückkehr nach Berlin. Weimarer Republik: Autorschaft des Intellektuellen im publizistischen Feld Im Literaturbetrieb der Weimarer Republik nimmt Benjamin die Position eines Publizisten, Intellektuel- len, Essayisten und Kritikers ein. Während das Ende dieser Lebensphase mit dem Datum 1933 als politi- scher Einschnitt vorgegeben ist, kann der Zeitraum 1924/1925 als Einsatzpunkt gelten: Benjamin löst sich vom akademischen Kontext uploads/Litterature/ amostra-benjamin-handbuch 1 .pdf

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