Begriffsgeschichte und Historische Semantik von Kathrin Kollmeier Installation

Begriffsgeschichte und Historische Semantik von Kathrin Kollmeier Installation im Pariser Stadtteil Belleville von Benjamin Vautier. Foto: Ploupi. Der Umgang mit sprachlichen Zeugnissen gehört zu den Grundvoraussetzungen analytischer Quellenarbeit seit der Herausbildung der historisch-kritischen Methode. Forschungsansätze, die unter dem Oberbegriff der Historischen Semantik gefasst wer- den können und unter denen die Begriffsgeschichte eine besondere Rolle spielt, neh- men diese Selbstverständlichkeit zum Ausgangspunkt, um die Quellensprache selbst auf ihre Geschichtlichkeit hin zu befragen und ihre Rolle im und für den historischen Wandel zu bestimmen. Historische Semantik untersucht den Bedeutungsgehalt und -wandel kultureller, ins- besondere sprachlicher Äußerungen auf ihre Historizität. Als geschichtswissenschaft- licher Ansatz werden mit dieser Forschungsperspektive die kulturellen, gesellschaft- lichen und politischen Bedingungen und Voraussetzungen dessen, wie zu einer be- stimmten Zeit Sinn zugewiesen und artikuliert wurde, erforscht und interpretiert. Der spezifische Zugriff der Begriffsgeschichte wählt dazu isolierte, verdichtende Stichwörter, Kathrin Kollmeier Begriffsgeschichte und Historische Semantik denen eine Schlüsselstellung zugesprochen wird, um sprachförmige Konzeptualisie- rungen zu erfassen und zu kontextualisieren. Untersucht wird nicht der historische Sprachwandel, der Gegenstand des gleichnamigen Arbeitsfeldes der Linguistik ist.1 Anders als die die Wortherkunft aufschlüsselnde Etymologie zielen Begriffsgeschichte und Historische Semantik auch nicht primär auf eine sprachwissenschaftliche Analyse der Entwicklungsgeschichte von Wörtern und Begriffen, sondern darauf, Geschicht- lichkeit im Medium von Sprache und Begriffen zu erschließen. Im Sinne einer Bedeutungsgeschichte eignet sich die Historische Semantik nicht nur zur Analyse von Worten, Begriffen, Sprachen und Diskursen. Das methodische Arsenal kann in einem breiteren Verständnis auch zur Untersuchung weiterer kultureller Äu- ßerungen wie Bilder, Rituale, Habitus und Performativa (wie z.B. Mimik und Gestik) im Wandel ihrer Bedeutungen eingesetzt werden. Eine auf die Semantik konzentrier- te historische Analyse misst die kommunikativen Spielräume einer Zeit aus; sie spürt dem nach, was in einer Epoche artikulierbar, „sagbar” war.2 Hier überschneidet sie sich mit der Diskursgeschichte, deren analytisches Verfahren in besonderem Maße die Sag- barkeitsregeln einer Zeit identifiziert und historisiert, als nichthermeneutische Wissens- geschichte jedoch von einem anderen Sprachverständnis ausgeht. Mit der besonderen Aufmerksamkeit für die sprachliche Verfasstheit historischer Zeiten, die zum eigenen Analysegegenstand wird,3 und in der Historisierung von kulturellem Wissen und Deu- tungen sind diese Ansätze eng miteinander verbunden. Gemeinsam trugen sie zum sprachphilosophischen und sprachgeschichtlichen Aufbruch auch in den Geschichts- wissenschaften im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bei, der mit dem Schlagwort des linguistic turn verbunden ist.4 Der interdisziplinäre Ansatz richtet sich also auf die Sinnerzeugung vergangener Ge- sellschaften mithilfe von Sprache, Texten und Bildern. In der Analyse semantischer, be- reits Welt deutender Überreste werden Interpretationen zweiter Ordnung betrieben,5 indem anhand der Konzepte und Konzeptualisierungen der jeweiligen Zeitgenossen der Denkhintergrund und die Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte einer vergan- genen Zeit rekonstruiert werden. In diesem Gegenstandsbereich liegt die nahe Ver- wandtschaft zur Ideen- und Mentalitätsgeschichte. Ansätze der Historischen Seman- tik zielen demgegenüber stärker auf die Rekonstruktion vergangener Kommunikation, lösen diese Kontextualisierung jedoch in unterschiedlichem Grad ein. Wo klassische Be- griffsgeschichte die Neuartigkeit einer Prägung als entscheidendes Moment sieht, das einen Begriff historisch auffällig und als Index geschichtlichen Wandels nutzbar macht, setzen breitere Perspektiven Historischer Semantik stärker auf dessen Umstrittenheit 1 Vgl. dazu einführend etwa Gerd Fritz, Historische Semantik, 2. Auf., Stuttgart 2006 (zuerst1998). 2 Vgl. Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspiel- räume. England 1780-1867, Stuttgart 1993. 3 Vgl. Rüdiger Graf, Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte, Version: 2.0, in: Docupedia- Zeitgeschichte, 22.10.2012, online unter https://docupedia.de/zg/Zeit_und_Zeitkonzeptionen_ Version_2.0_R?diger_Graf. 4 Als einführender Überblick: Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 156-172. 5 Ralf Konersmann, Zur Sache der historischen Semantik, in: ders., Der Schleier des Timanthes. Perspek- tiven der historischen Semantik, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2004 (zuerst 1994), S. 9-55, hier S. 47. 2 Kathrin Kollmeier Begriffsgeschichte und Historische Semantik und Konflikthaftigkeit. Jenseits der linguistischen Ebene bestimmen sie die Verhand- lung von Konzepten, Begriffen oder Argumenten in politischen und gesellschaftlichen Kommunikationssituationen funktional und spezifizieren sie hinsichtlich der jeweils Sprechenden, des politischen Regimes und weiterer sozialer und historischer Bedin- gungen zu einem bestimmten Zeitpunkt oder Zeitraum.6 In der deutschsprachigen Forschung ist das Feld vor allem durch die kollektive Großforschung der lexikografischen Begriffsgeschichte geprägt worden. Als wirkungs- mächtiger Klassiker, der bis heute produktive Auseinandersetzungen stimuliert, bil- den dieGeschichtlichen Grundbegriffe in diesem Beitrag einen Schwerpunkt, um Mög- lichkeiten und Probleme des Zugriffs zu verdeutlichen. Aus der Kritik an dieser wort- isolierenden Herangehensweise der historischen Arbeit am Begriff, deren Historisie- rung jüngst begonnen hat,7 entstanden konzeptionelle Weiterentwicklungen Histori- scher Semantik, unter denen abschließend vor allem transnationale Perspektiven auf die Zeitgeschichte betrachtet werden. Lexikalische Begriffsgeschichte als Grundlagenforschung Die Geschichtlichen Grundbegriffe8, herausgegeben von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck und zwischen 1972 und 1997 in sieben umfangreichen inhaltlichen Bänden erschienen, bilden in ihrer maßgeblich von Reinhart Koselleck (1923-2006) entwickelten Konzeption das Standardwerk historiografisch-lexikalischer Begriffsge- schichte, das mit Kosellecks Erkenntnisinteresse an einer spezifisch modernen Selbst- reflexion der Sprache zum Paradigma der Begriffsgeschichte wurde.9 Die Begriffsgeschichte konnte sowohl an ältere philosophische als auch geschichtli- che Lexika10 anschließen wie an Begriffsforschungen der 1920/30er-Jahre in verschie- 6 Vgl. Melvin Richter, Conceptualizing the Contestable: „Begriffsgeschichte“ and Political Concepts, in: Gunter Scholz (Hrsg.), Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte (= Archiv für Begriffsgeschichte; Sonderheft), Hamburg 2000, S. 135-143. 7 Vgl. u.a. Hans Joas/Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte. Materialien zum Werk Reinhart Kosel- lecks, Frankfurt a.M. 2011; Kari Palonen, Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der po- litischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster 2004; als kritische Selbsthis- torisierung: Hans Ulrich Gumbrecht, Pyramiden des Geistes. Über den schnellen Aufstieg, die un- sichtbaren Dimensionen und das plötzliche Abebben der begriffsgeschichtlichen Bewegung, in: ders., Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006, S. 7-36; hingegen die Forschungs- bilanz: Willibald Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte – The State of the Art, in: Heidrun Käm- per/Ludwig M. Eichinger (Hrsg.), Sprache, Kognition, Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung. Berlin 2008, S. 174-189. Auch online unter Materialien zur Debatte: Zeitge- schichte der Begriffe? Perspektiven einer Historischen Semantik des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistori- sche Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 7, (2010), H. 1, online unter http: //www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Material-1-2010; hierhttp://www.zeithistorische- forschungen.de/Portals/_zf/documents/pdf/2010-1/Steinmetz-2008.pdf. 8 Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. im Auftrag des Arbeitskreises für moder- ne Sozialgeschichte e.V., 8 Bde., Stuttgart 1972-1997. 9 Zur Selbstreflexivität vgl. Reinhart Koselleck, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, in: ders., Be- griffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache; Frank- furt a.M. 2006 (zuerst 1986), S. 9-31, hier S. 21. 10 Vgl. etwa Rudolf Eucken, Die Grundbegriffe der Gegenwart. Historisch und kritisch entwickelt, Leip- 3 Kathrin Kollmeier Begriffsgeschichte und Historische Semantik denen Disziplinen, etwa von Erich Rothacker (Philosophiegeschichte), Werner Jäger (Altphilologie), Johannes Kühn (Geistesgeschichte), Carl Schmitt (Religionsgeschichte), Walter Schlesinger und Otto Brunner (Mediävistik).11 In der französischen Geschichts- wissenschaft verknüpfte Lucien Febvre seit 1930 in einer lexikologischen Rubrik der Zeitschrift „Annales” die Bedeutungsgeschichten neugeprägter Schlüsselwörter und Sachen.12 Mit Blick auf die „Entstehung der modernen Welt” in der „Sattelzeit” von 1750-1850 kontextualisieren die Geschichtlichen Grundbegriffe die historischen Erfahrungen und Erwartungen anhand der Veränderung grundlegender Schlüsselbegriffe der politisch- sozialen Sprache.13 Als Zugriff auf Vorstellungswelten und Deutungskonflikte nutzt der Ansatz die Komplexität von „Begriffen” als Begriffswort einerseits und als abstrak- tes, interpretationsbedürftiges Konzept andererseits, in dem sich eine Fülle von Wort- bedeutungen abgelagert haben.14 Das Konzept – die mit einer Wortbedeutung verbun- dene Vorstellung –beinhaltet bereits eine perspektivierte Deutungsleistung und bietet vielfältige Anschlussfähigkeit nicht nur an die Geschichte von Ideen, sondern darüber hinaus an politische, soziale und kulturelle Wandlungsprozesse. Aufgrund dieser Doppelfigur repräsentieren Begriffe historische Problemfelder in verdichteter Form, gleichsam in Chiffren – ein für die Forschungspraxis ebenso stimu- lierender wie theoretisch problematischer Punkt.15 Bedeutungswandel und Begriffs- neubildungen werden gleichermaßen als Faktoren wie Indikatoren geschichtlichen Wandels verstanden.16 Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass begriffliche Innova- tionen und Neuprägungen historisch innovative Momente anzeigen: „Mit dem neuen Begriff zeigt sich ein neuer Sachverhalt.”17 Begriffsbildungen und der sich wandelnde zig 21893 (zuerst erschienen unter dem Titel „Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegen- wart“, Leipzig 1878). Eucken verstand Grundbegriffe als „Spiegel der Zeit“, S. 1f. Siehe auch Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe und Ausdrücke, Berlin 1899; Wörterbuch der philoso- phischen Begriffe. Historisch quellenmäßig bearbeitet von Rudolf Eisler, 3 Bde., Berlin 1910. 11 Vgl. die Hinweise von Reinhart Koselleck, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Historische Semantik und Be- griffsgeschichte (= Sprache und Geschichte; 1), Stuttgart 1979, S. 9-16, hier S. 9. 12 Lucien Febvre, Les mots et les choses en histoire économique, in: Annales d’histoire économique et sociale 2 (1930), H. 6, S. 231-234. Die gleichnamige Zeitschriftenrubrik zitierte explizit die kultur- und sprachgeschichtliche Heidelberger Zeitschrift „Wörter und Sachen“ (1909-1943/44). 1966 machte Fou- cault die Formulierung als Titel seiner „Archäologie des Geistes“ sprichwörtlich (dt.: Die Ordnung der Dinge). 13 Vgl. zu den beiden für Koselleck zentralen Kategorien des „Erfahrungsraums“ und des „Erwartungs- raums“: Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kate- gorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 349-375. Zitate hier und im Folgenden aus den frühen Programmtexten: Reinhart Koselleck, Richtlini- en für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, in: Archiv für Begriffgeschichte 11 (1967), S. 81-99, hier S. 81f.; ders., Einleitung, in: Brunner/Conze/ders. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. uploads/Litterature/ begriffsgeschichte-und-historische-semantik.pdf

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