Marlon Grohn HASS VON OBEN, HASS VON UNTEN Klassenkampf im Internet DAS NEUE BE
Marlon Grohn HASS VON OBEN, HASS VON UNTEN Klassenkampf im Internet DAS NEUE BERLIN Über das Buch Die vielbeklagten Phänomene Hass und Verrohung sind Teil des traditio- nellen Pöbel-Problems: Vor 200 Jahren machte man Goethe-Bücher für Selbstmorde verantwortlich, nach 1990 sollten »Ballerspiele« und Heavy Metal an der »Verrohung der Jugend« schuld sein, an Hass, Gewalt, Amok- läufen, Attentaten, Terror und sonstigem angeblichem Sittenverfall. Heute ist es der »Netz-Hass«: Was dem Rechten sein Drogendealer im Park, dessen Beseitigung ihm der letzte Schritt auf dem Marsch in die heile freie Welt ist, sind den Linksliberalen ihre Hassenden und Trolle im Netz. Die nähere Unter- suchung zeigt: Da werden bloße Symptome zur Bedrohung für Gesellschaft, Freiheit, Frieden zurechtfetischisiert. Was aber ist schon der Hass gegen die Gesellschaft im Vergleich zur Gesellschaft, die den Hass hervorbringt? Was ist das Beleidigen eines Springer-Redakteurs gegen die Beleidigung, die Springer für die Menschheit bedeutet? Über den Autor Marlon Grohn studierte Soziologie und Germanistik. Er betreibt seit 2008 die Website »Lyzis’ Welt« und veröffentlichte 2019 das Buch »Kommunismus für Erwachsene. Linkes Bewusstsein und die Wirklichkeit des Sozialismus«. 2020 gab er mit Dietmar Dath die Zitatensammlung »Hegel to go« heraus und referierte auf der Peter-Hacks-Tagung zum Demokratie-Begriff bei Marx und Hacks. Das Neue Berlin — eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage ISBN 978-3-360-01373-6 1. Auflage 2021 © Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin www.eulenspiegel.com Sämtliche Inhalte dieser Leseprobe sind urheberrechtlich geschützt. Sie dürfen ohne vorherige schriftliche Genehmigung weder ganz noch auszugsweise kopiert, verändert, vervielfältigt oder veröffentlicht werden. Inhalt 1. Begriff des Hasses 9 Hass erfüllt | Hass oder Ideologie? | Das Symptom Hass | Hass-Bedürfnisse: Über das Vergnügen, Sascha Lobo zu hassen 2. Einführung in den Hass 24 Wer darf was? Klassiker des Hasses | Kunsthass vs. Netzhass: Menschen und Masken | Zweierlei Realität: Hassbekämpfung als Gegenaufklärung | Liberale »Gegen den Hass«: Emckes Welt | Hass von oben: Der Diskurs | Too many Friends: Die Ware User 3. Die Regeln des Spiels Social Media: Hass vs. Empörung 59 Große Weltdoofheit vs. kleinere Weltdoofheit | Privatmeinungen und Privatidentitäten in der Öffentlichkeit | Was ist das Pöbeln auf Social Media gegen die Gründung von Social Media? | Der gute Mensch vom Web 2.0 | Öffentlichkeit, Presse, Pöbel | Linker und rechter Hass | Hassverbote und Hassgebote 4. Meinung und Medien 84 Meinungsfreiheit: Zur Grundlage des heutigen Medien- Irrsinns | Trolle und andere Opfer: Der Hass und die Medien 5. Das große Anerkanntwerdenwollen im Netz 94 Reise nach Jerusalem | Sei im Netz dein eigenes Symptom: Man wird nicht zum Troll geboren, sondern zu einem gemacht | Anerkennung und »böses Bewusstsein« (Hegel) | Verletztheit und Selbst | Shaming als Anerkennung 6. Denken, Höflichkeit und Hater 107 Warum überhaupt denken? Und wenn ja, warum nicht im Netz? | Der Hater | Der Sanftmut des Hasses 7. Die Guten und das Böse 120 Überall Opfer | Das schutzbedürftige Bewusstsein und das Wesen der Trollerei | Selfcare, safes spaces und schöne Seelen | Ironische Narreteien | Das »Toxische im Diskurs« und der toxische Diskurs selbst: Der Boden der Unfreundlichkeit | Affekthascherei | Empörung als romantische Praxis 8. Nettigkeiten: Roh und gar 146 Verrohung | Psychologisches: Nettigkeit als Krankmacher | Bürgerliche Werte und Formen: Zumutungen des Netten | Desinteresse an Harmlosigkeit | Taktvoll und Taktlos | Valie Export: Für einen neuen Hass von links 9. Schluss: Das Ethos des Textes 165 Anmerkungen 170 »Erlauben Sie also, dass ich Ihnen mitteile, dass der Kampf zwischen Ihrer und meiner Generation […] nicht ein Kampf um Meinungen, sondern ein Kampf um die Produktionsmittel sein wird. Es liegt in unserer Natur, dass Sie vornehm, ich unvornehm kämpfe. Sie werden mich doch nicht umbringen wollen! Aber ich Sie.« (Bertolt Brecht an Thomas Mann: Wer meint wen, Schriften zur Literatur und Kunst) »Der Verfasser des Briefes ist erfüllt von edelstem proletarischem Haß auf die bürgerlichen ›Klassenpolitiker‹ (einem Haß, der allerdings nicht nur den Proletariern, sondern auch allen anderen Werktätigen, allen, um einen deutschen Ausdruck zu gebrauchen, ›kleinen Leuten‹ einleuchtend und verständlich ist). Dieser Haß des Vertreters der unterdrückten und ausgebeuteten Massen ist wahrlich ›aller Weisheit Anfang‹, die Grundlage einer jeden sozialistischen und kommunis tischen Bewegung und ihrer Erfolge.« (W. I. Lenin: Der Linke Radika lismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus) »Und wir haben die Möglichkeit, zu wählen: bekämpfen wir ihn mit der Liebe, bekämpfen wir ihn mit Haß? Wir wollen kämpfen mit Haß aus Liebe. Mit Haß gegen jeden Burschen, der sich erkühnt hat, das Blut seiner Landsleute zu trinken, wie man Wein trinkt, um damit auf seine Gesundheit und die seiner Freunde anzustoßen. Mit Haß gegen einen Klüngel, dem übermäßig erraffter Besitz und das Elend der Heim arbeiter gottgewollt erscheint, der von erkauften Professoren beweisen läßt, daß dem so sein muß, und der auf gebeugten Rücken vegetierender Menschen freundliche Idyllen feiert. Wir kämpfen allerdings mit Haß. Aber wir kämpfen aus Liebe für die Unterdrückten, die nicht immer notwendigerweise Proletarier sein müssen, und wir lieben in den Menschen den Gedanken an die Menschheit.« (Kurt Tucholsky: Wir Negativen) 9 1. Begriff des Hasses Hass erfüllt Die bürgerliche Konkurrenzgesellschaft, ihr Markt, ihr Zwang zur Kapitalreproduktion erzeugt eine Spannung in den Individuen und ihren Beziehungen, welche die her- kömmlichen, beschränkten Welterfassungs- und Aneig- nungskonzepte wie Religion oder Ideologien mit ihren Erfolgs- und Glücksversprechen nicht mehr zu lösen im- stande sind. Auf solcher gesellschaftlicher Grundlage wird der ohne hin vorhandene innere Hass immer in irgendeiner Form entäußert. »Triebabfuhr« nennt das die Psycholo- gie. Aber die Triebmüllabfuhr tritt nur noch unregelmäßig ihren Dienst an; auch hier spart der Staat. Die sozialen Netzwerke müssen aushelfen: Früher gingen die Leute zum Therapeuten, heute zu Facebook. Bislang suchte man die Spannungen aufzulösen, zu subli mieren mittels Arbeit, Therapie, Sport, Gaming oder, wo es besonders pressierte, durch Amokläufe und Terror- akte, Mord und Totschlag, alltägliche Gewalt auf der Straße oder in der als erholsames Idyll vielgerühmten Familie. Diese Phänomene sind als notwendige Hervorbringungen bürgerlicher Vergesellschaftung nichts Befremdliches oder Ausnahme, sondern Regelbetrieb. Sie sind Struktur. Wo Glücks- und Liebesversprechen nicht mehr erfüllt werden können, scheint der Hass den ihn Empfindenden ersatzweise zu erfüllen. Das mag hinreichen, solange keine andere Erfüllung in seinem Leben zu erwarten ist. Gegnern des Hasses »im Netz« aber genügt es nicht, die Hassen- den damit als gestraft genug zu erachten. Sie wollen den verkümmerten Seelen obendrein noch eins auswischen: 10 Gefängnisstrafen sollen her. Schon dieses Bedürfnis zeigt, dass Hass nicht bloß auf einer der Seiten ausgelebt wird. Dass heute selbstverständlich von dem Hass geredet wird, als wäre dieser ein eindeutig bestimmtes Phäno- men, während es sich in Wahrheit um klar darlegbare Er- scheinungen handelt wie: konkrete persönliche Drohung, Verleumdung, Wut, Provokation, Nerverei, Kunst, unlieb- same Ansichten, Faschismus, proletarischer Klassenkampf oder irgendwelche irrelevanten oder höchst bescheuerten Meinungen, statt um ein bloß abstraktes, nicht näher defi- niertes oder erforschtes Gefühl, zeigt, dass das öffentliche Geschwätz vom Hass in den letzten Jahren seine beabsich- tigte Wirkung voll erzielt hat. Die Rede geht nicht mehr von gesellschaftlichen Zusammenhängen, die seelische Verelendung und Bosheit hervorbringen, sondern von be- haupteten persönlichen Empfindungen – Hass beim Hater, Verletzungen beim Angepöbelten –, womit die wirklichen Ursachen bloß verdeckt werden. Das Spektakel gegen den Hass ersetzt die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Klassengesellschaft; es entspricht diese Gesellschaftsana- lyse dem Niveau des Liberalismus. Man hat es also heute mit einer Öffentlichkeit zu tun, in der es nicht mehr um objektive gesellschaftliche Verhältnisse geht, sondern nur noch um die Verletztheiten einzelner Personen. Die Kinder- perspektive einer subjektivistischen Erfahrungswelt wird zum hinlänglichen Maßstab auch für alle Belange des Le- bensernstes. So werden inzwischen die verschiedensten Vorgänge als Hass betitelt. Gemeinsam ist ihnen aber nur, dass sie 1.) scheinbar oder tatsächlich die liberale Mitte und ihre Ideologie bedrohen oder deren allzu schnell gefällte Urteile in Frage stellen und 2.) sich nicht an die Regeln des nor- malisierten Hasses halten, also ein anderes Hassverhalten an den Tag legen und einen anderen Modus des Hasses bevorzugen, als die bisher legitimierten und abgesegneten Formen des Hasses hergeben. 11 Hass oder Ideologie? Einen Begriff zu bestimmen kann nicht gelingen, indem Wortklauberei oder Etymologie oder zusammenhanglo- ses subjektivistisches Assoziieren betrieben wird, sondern nur mittels Überprüfung eines Ausdrucks in seinem gesell- schaftlichen Zusammenhang, in seiner realen Praxis, seiner alltäglichen Anwendung. Auf diese Weise nur kann mate- rialistische Begriffsbestimmung vorgehen, die schon des- halb keine Definition sein kann, weil nicht der dialektische Materialist die gesellschaftliche Verwendung von Wörtern anordnet, sondern das Gesellschaftsganze diese ausbrütet. Auch wildes Herumheideggern im Wortlaut selbst ist ein wenig hilfreicher Idealismus. Dem Verfasser ist es gleich, ob es irgendwo jemanden gibt, der tolle Privatdefinitionen eines sicherlich ehrlich empfundenen Hass-Begriffs vor- weisen kann, die dem materialistisch bestimmten wider- sprechen, denn es geht darum, was am Wortgebrauch des Alltags so an ideologischem Murks abfließt und sich in die Hirne windet, um dort Schaden anzurichten. Kurz: es ist hier darum zu tun, genau zu schauen, wie, wo und vor allem von wem in welchem Zusammenhang das Wort Hass benutzt wird, um herausfinden zu können, was dieses letztlich bedeutet, was der Inhalt seines Begriffs ist, was uploads/s3/ marlon-grohn-hass-von-oben-hass-von-unten-leseprobe.pdf
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- Publié le Fev 14, 2022
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