ZfB, 42 (2006) 1 + 2 Aus der Kartothek der Albanismen in balkanischen Geheimspr

ZfB, 42 (2006) 1 + 2 Aus der Kartothek der Albanismen in balkanischen Geheimsprachen: Morphologische Adaption und Wortbildung Corinna Leschber (Berlin) Es sind diverse bulgarische und makedonische so genannte Geheimsprachen doku- mentiert. Dabei handelt es sich um historisch nachgewiesenes sprachliches Material – die meisten der bulgarischen und makedonischen Handwerker-Geheimsprachen waren lediglich bis in das erste Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts, und zwar mit nachlassender Intensität, in Gebrauch. Ende des zwanzigsten Jahrhunderts konnten nur noch in einigen Regionen auf dem südwestlichen bulgarischen Sprachgebiet Spu- ren davon nachgewiesen werden 1. Eine Geheimsprache ist nach Glück (2000: 233) eine Sondersprache, die von Nicht-Kundigen nicht verstanden werden kann. Geheimsprachen weisen spezifische Wortschätze auf und haben Gruppen-konstituierende Funktion 2. In den bulgarischen und makedonischen Handwerker-Geheimsprachen lässt sich eine Vielzahl von Wör- tern albanischer Herkunft nachweisen. Im Folgenden werden einige Beispiele aus einer Kartothek 3 erläutert, die entsprechendes Wortmaterial umfasst. Diese Beispiele werden in Hinblick auf ihre Wortbildung und ihre morphologische Adaption, sowie in Hinblick auf charakteristische Entwicklungen vom Etymon zum entsprechenden geheimsprachlichen Wort erläutert. Bisher sind durch d. Verf. um die 400 Grundwörter in dieser Kartothek zusam- mengestellt worden, bei denen es sich um direkte und eindeutige Übernahmen aus dem Albanischen in das Bulgarische und das Makedonische handelt. Zusätzlich konnten zahlreiche Derivate festgestellt werden – bis zu 10 Derivate pro Grundwort mit albanischer Etymologie sind keine Seltenheit. Noch zahlreicher als diese sind die phonetischen Varianten: Sie sind ein Charakteristikum der Lexeme aus diesen margi- nalen sprachlichen Sphären, die aufgrund ihres rein mündlichen Gebrauchs kaum je 1 Ivanov (1997: 147, 168); heute sind die bulgarischen Geheimsprachen definitiv im Ver- schwinden begriffen; meist sind nur noch bei älteren Leuten, ehemaligen Handwerkern, ge- wisse Kenntnisse nachzuweisen, denn mit den traditionellen Ausprägungen des Handwerks verschwanden auch die ihre Ausübung begleitenden Geheimsprachen. Die Geheimsprache der Wollschläger war bereits seit dem dritten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts im Aus- sterben begriffen. Selbst bei zu diesem Zeitpunkt aufgezeichneten Geheimsprachen handelt es sich laut Ivanov (1997: 151) nur noch um Überreste von einst viel verbreiteter gebrauchten bulgarischen Sondersprachen. Heute sind sie nur noch als relikthafte Erscheinung anzusehen. Bereits seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts muss demnach von dem Aussterben der bulgarischen und makedonischen Geheimsprachen gesprochen werden; cf. dazu Kovačeva- Kostadinova (1991). 2 Vgl. weiterführend dazu Glück (2000: 642–643), Bußmann (2002: 238, 606–607), Siewert (2003). 3 Siehe Literaturverzeichnis. AUS DER KARTOTHEK DER ALBANISMEN ZfB, 42 (2006) 1 + 2 135 normierenden Faktoren ausgesetzt waren. Summiert beläuft sich die Zahl der Deri- vate und der phonetischen Varianten auf weit über tausend Lexeme. In der Kartothek sind die Belege für diese Lexeme in den diastratischen und den diatopischen Varietäten des Bulgarischen und Makedonischen verzeichnet: ihr Auf- treten in den spezifischen Geheimsprachen und ihre hauptsächlichen territorialen Verbreitungsgebiete. Es wird die jeweilige Wortart vermerkt, und die jeweils belegten Bedeutungen der Lexeme. Bei Polysemantik wird – soweit rekonstruierbar – die Grundbedeutung festgestellt und die sekundär entwickelten Bedeutungen. Phoneti- sche Varianten werden dokumentiert, die Derivate und die Wortbildungsmechanis- men, die zur morphologischen Adaption des Wortes geführt haben. Dann folgen die Etymologien der Wörter – gegebenenfalls voneinander abweichende etymologische Deutungen, besondere Bemerkungen und an letzter Stelle die Quellen für das Wort in der bisher vorliegenden Fachliteratur 4 zum Thema. Bereits im neunzehnten Jahrhundert wurde auf dem bulgarischen Sprachgebiet rege Material aus diversen Geheimsprachen gesammelt und in der Folge erschienen zahlreiche Publikationen zum Thema (siehe Fußnote 4). Dabei trug man lexikalisches Material aus den Handwerker-Geheimsprachen einzelner Landstriche zusammen und wandte sich im Besonderen den Geheimsprachen der Maurer 5, der Zinnschmiede 6, der Zimmerleute 7 bzw. der Baumeister-Sprache 8 zu, wie auch der Sprache der Wollschlä- ger 9, der Brotbäcker bzw. Bäcker oder Ofenbetreiber 10, der Schuster und Stiefelma- cher 11, der Geheimsprache der (Schlager)musikanten 12, der Händler 13, der Schneider und Näher 14, der Zierbandmacher 15, der Geheimsprache derjenigen Gewerbetreiben- den, die Erzeugnisse aus Ziegenhaar anfertigen 16 und anderen Handwerker-Geheim- sprachen; außerdem den Geheimsprachen der Gauner und (blinden) Bettler etc. 17 Später erschienen Arbeiten zur Sofioter Schülersprache 18, und Abhandlungen zu 4 Herangezogen wurden als Materialbasis vorwiegend die folgenden Arbeiten: Argirov (1901), Arnaudov (1898) und (1906–1907), Cepenkov (1896) und (1898), Christov (1941), Čilev (1900), GĂbjuv (1900), I. G. Ivanov (1974), J. Ivanov (1974), J. Ivanov (1986), Jagić (1895), Jireček (1884), (1885), Kacori, Dukova, Asenova (1984), Kalajdžiev (1947), KĂnčev (1956), Nedjalkov (1942), Stoilov (1926), Šiškov (1909) und (1911), Šišmanov (1896) und andere, sowie Meyer (1891) und die Angaben im BER, cf. auch Leschber (2002a). 5 zidári 6 kalajdžíi 7 djulgéri 8 méšteri, bzw. meštrugánski góvor 9 drăndári 10 chlebári, arch. fúrnadžii 11 obuštári, botušári 12 čálgadžii, muzikánti 13 tărgóvci, pramatári 14 terzíi 15 gajtandžíi 16 mutafčíjski govor – Geheimsprache der mutafčíi. 17 kradcí, prestăpnici, prósjaci, slepcí – zur frühen Geschichte der Erforschung der bulgarischen Geheimsprachen cf. des weiteren Ivanov (1974: 197–200). 18 Mladenov (1930), Stojkov (1946). CORINNA LESCHBER ZfB, 42 (2006) 1 + 2 136 speziellen etymologischen Gewichtungen innerhalb des geheimsprachlichen Lexi- kons 19. Die umfassendste Arbeit liefert J. Ivanov (1986) zu den bulgarischen Hand- werker-Geheimsprachen. In Leschber (2004) wurden unter anderem Zahlen zum absoluten Vorkommen der geheimsprachlichen Wörter mit albanischer Etymologie in den einzelnen Ge- heimsprachen und in den einzelnen Regionen vorgestellt. Dabei wurde die folgende spezifische Verteilung festgestellt – und zwar I. innerhalb der einzelnen Geheimspra- chen und II. im geografischen Raum: Absolute Zahlen für die Gesamtheit der aus dem Albanischen übernommenen Grundwörter (ohne Derivate): A. Verteilung auf die einzelnen Geheimsprachen (GS) GS Maurer GS Schneider GS Bettler GS Schuster GS Wollschläger GS Musikanten GS Bäcker GS Händler Verben 76 17 3 9 3 – 1 2 Substantive (Personenbez.) 42 11 4 2 1 1 – – Substantive (Nahrungsbez.) 33 4 2 – 2 2 – – Substantive (Tierbez.) 19 4 1 – 1 1 – – Substantive (menschl. Körper) 21 4 – – 1 – – – Verschiedenes (Konkreta) 56 10 3 1 1 2 2 – Verschiedenes (Abstrakta) 21 8 2 1 1 1 – – andere Wortarten 17 8 – 1 – – – – Summe 285 66 15 14 10 7 3 2 19 Cf. Kostov (1956), Kacori, Dukova, Asenova (1984), Leschber (2002b) AUS DER KARTOTHEK DER ALBANISMEN ZfB, 42 (2006) 1 + 2 137 B. Hauptsächliche geografische Verteilung der geheimsprachlichen Wörter Bracigovo Debăr ‚südwestlich’ 20 Smolsko Gărmen Bačkovo Elešnica Verben 25 18 20 20 11 6 11 Substantive (Personenbez.) 17 15 6 10 6 6 – Substantive (Nahrungsbez.) 13 5 8 8 6 4 – Substantive (Tierbez.) 7 5 4 5 5 – – Substantive (menschl. Körper) 13 4 4 4 – – – Verschiedenes (Konkreta) 20 11 15 8 10 7 11 Verschiedenes (Abstrakta) 14 8 6 – 4 – – andere Wortarten 12 8 3 – – – – Summe 121 74 66 55 42 23 22 Das von den Wortarten her vollständigste Paradigma weist die Maurer-Geheimspra- che auf, die neben Verben und Substantiven (Konkreta und Abstrakta) nicht nur zahlreiche Adjektive und Adverbien aufzuweisen hat, sondern auch noch das einzig vorkommende Personalpronomen. Zudem konzentriert sich das Vorkommen dieses reichhaltigen Paradigmas in Bracigovo, im Gebiet Pazardžik, wo neben den Verben und den Substantiven (Konkreta und Abstrakta), Adjektiven und Adverbien, eben auch das Personalpronomen nachzuweisen ist. Die Struktur der bulgarischen und makedonischen Geheimsprachen lehnt sich phonetisch, morphologisch und syntaktisch an die lokalen Dialekte ihrer Umgebung an, wobei Besonderheiten entwickelt wurden, die sich besonders auf der Ebene ihres lexikalischen Systems spiegeln 21. Das lexiko-semantische System der bulgarischen Geheimsprachen ist frei von einer engen berufsgebundenen Spezialisierung. Die Ge- heimsprachen funktionier(t)en meist überregional und stellten kein fertiges Gebilde dar, sondern ein – vor allem in lexikalischer Hinsicht – offenes System, das in der mündlichen Kommunikation gebraucht wurde. Erfolgte eine Dechiffrierung eines 20 Gelegentlich wird in der Literatur das Verbreitungsgebiet eines Wortes lediglich mit ‚süd- westlich’ angegeben. 21 Zu solchen Besonderheiten gehört beispielsweise die Ausbildung von Euphemismen. CORINNA LESCHBER ZfB, 42 (2006) 1 + 2 138 lexikalischen Elementes, wurde sofort ein entsprechendes neues Element nachgebil- det 22. Lexikalische Übernahmen wurden vor allem aus dem Albanischen, dem Türki- schen und Griechischen und dem Romani vorgenommen und entsprechend dem morphologischen System des Bulgarischen und des Makedonischen in diese – bzw. in die entsprechenden Sondersprachen – eingegliedert. Eher selten sind die Fälle, in denen übernommenes Wortgut nicht nach bulgarischen bzw. makedonischen mor- phologischen Regeln umgestaltet wurde. Die Art der Adaption orientierte sich je- doch nicht nur an der grammatikalischen Kategorie des gleichbedeutenden bulgari- schen Wortes, sondern oft auch an dessen Wortbildungsmodell. Gelegentlich kam es zu etymologisch hybriden Bildungen, zu Kontaminationen. Dabei wurde häufig die Wurzel aus dem Albanischen übernommen und mit Hilfe der in den bulgarischen Geheimsprachen aktiven Derivationselemente integriert. Ein weiteres Nominationsprinzip hat die Verschleierung der Bedeutung zum Ziel: Substantive werden durch Adjektivsuffixe formal zum Adjektiv und dann erneut substantiviert u.a. Vorherrschend in der bulgarischen Maurer-Geheimsprache bei- spielsweise ist die Metapher, und – seltener – die Metonymie. Das Lexikon wurde durch eine hohe Produktivität der Neubildungen erweitert, geheimsprachliche Lexeme avancierten auf diese Weise zum Zentrum so genannter Wortbildungsnester. In Kacori, Dukova, Asenova (1984) werden als typische Ei- genschaften der bulgarischen Geheimsprachen u.a. lexikalische Übernahmen aus den Nachbarsprachen, metaphorische Bezeichnungen und pejorative Bezeichnungen, ein eigenes uploads/Litterature/ leschber-albanismen-78-78-1-pb-libre.pdf

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