30 HIKMA Die Frühgeschichte des Islams – ein gigantisches Fälschungswerk? Kriti
30 HIKMA Die Frühgeschichte des Islams – ein gigantisches Fälschungswerk? Kritische Überlegungen zu einer neueren Forschungsrichtung der Islamwissenschaft anhand des Buches von Andreas Goetze Religion fällt nicht vom Himmel Friedrich Erich Dobberahn / Harald Faber* Abstract This article analyses the investigations of the so-called “Saarbrücker Schule” con- cerning the origins and the early history of Islam, and criticizes the recent book of Andreas Goetze Religion fällt nicht vom Himmel – Die ersten Jahrhunderte des Islams (Wissen- schaftliche Buchgesellschaft, 2nd edition, Darmstadt 2012), which sums up the mainlines of the “Saarbrücker Schule”. In addition it evaluates Goetze’s position referring to the origins of Islam in Eastern Syriac Christianity and inquires for its importance for the interreligious dialogue between Muslims and Christians. Keywords: Qurʾān, Muḥammad, History of Early Islam, Dome of the Rock, Saarbrücker Schule, Chr. Luxenberg, Virgins of Paradise, Headscarf Commandment (Kopftuchgebot), Sura 112, Mixed Language Theory (Syro-Aramaic and Arabic), Karshuni, nominal phrase in Arabic and gerundive construction, numismatics, inter- religious dialogue, inclusivism, Babel-Bible Dispute. 1. Interreligiöser Dialog oder bloßer Inklusivismus? 1.1 Was will das Buch? Der Streit darüber, ob im Qurʾān tatsächlich von „Paradiesjungfrauen“ und nicht lediglich von „Weintrauben“ die Rede ist, oder ob hinter dem „Kopftuchgebot“ eigentlich nur die Anweisung steht, sich einen Gürtel um die Hüften zu schnallen, ist nur die „Spitze eines Eisberges“. In der gegenwärtigen Diskussion zur islamischen Frühgeschichte, die von Christoph Luxenberg (Pseud.) und der sog. Saarbrücker Schule angestoßen worden ist, geht es um wesentlich mehr. Wenn man diesen neueren Forschungen glauben soll, dann hat ein Prophet namens Muḥammad (ca. 570-632) niemals existiert und beruht der Qurʾān selbst auf christlichen Lektionaren der ostsyrischen Kirche, die erheblich später nach dem bisher angenommenen Datum der Offenbarungen an Muḥammad im Machtinteresse der abbāsidischen Kalifendynastie (ab 750) zu dem uns heute vorliegenden Qurʾān umgear- beitet worden sind. Damit steht nicht nur die Behauptung eines „gigantischen Manipula- tions- und Fälschungswerks“ der Abbāsiden im Raum, sondern hier wird dem Islam als Weltreligion gegenüber auch das religiöse Copyright des Christentums reklamiert. Dieser brisanten interreligiösen Thematik hat sich Andreas Goetze in seinem 2012 schon in zweiter Auflage erschienenen Buch Religion fällt nicht vom Himmel angenom- * Friedrich Erich Dobberahn, Dr. theol. Dr. phil., war u.a. von 1985-1993 Professor für Altes Testament und Semitische Sprachen an der Escola Superior de Teologia in São Leopoldo-RS, Brasilien (Emeritierung 2006). Harald Faber ist seit 2009 Dozent für Deutsch, Hebräisch, Griechisch und Klassisches Arabisch im Studiengang „Intercultural Theology“ der Universität Göttingen in Verbindung mit dem Missionsseminar Hermannsburg. Dobberahn / Faber: Die Frühgeschichte des Islams – ein gigantisches Fälschungswerk? 31 HIKMA men. Die hier zu besprechende Arbeit versucht, in einer popularisierenden Zusammenfas- sung der inzwischen erschienenen hochspezialisierten Fachliteratur die Ergebnisse der Saarbrücker Schule der interessierten Öffentlichkeit nahezubringen. Dabei geht es Goetze aber nicht nur um das erneute Aufspüren längst bekannter1 gemeinsamer religiöser Über- lieferungen in Christentum und Islam (Goetze, S. 11f., 268f., vgl. S. 347ff.). In die Fuß- stapfen der religionsgeschichtlichen Volksbücher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Zusammenhang des sog. „Babel-Bibel-Streits“2 tretend3, liegt das eigentliche, theologische Ziel dieser Arbeit in einer Aufarbeitung der Religionsgeschichte, mithilfe derer Goetze insbesondere Christen und Muslime auf der Grundlage eines gemeinsamen Ursprungs- glaubens zusammenführen möchte. Die Grundthese der Saarbrücker Forschungsrichtung, die Goetze selbst vehement verteidigt, lautet4, dass die Anfänge des Islams nicht auf dem Neuansatz einer eigenen Offenbarung beruhen, sondern im ostsyrischen, oft als „vornicaenisch“ bezeichneten (S. 63, 79f. u.ö.) Christentum beheimatet sind. Für eben diese ostsyrische Kirche sei – so stellt Goetze es dar – ein noch vom Hellenismus weitgehend unbeeinflusstes, aramäisches Den- ken kennzeichnend gewesen, in welchem Gott nicht „statisch- oder naturhaft-ontologisch“, sondern „relational-existentiell“, d.h. als lebendige Begegnung geglaubt werde (S. 63ff., 70ff., 79ff., 86ff., 373f., 376, 383, 467b u.ö.).5 Gerade diese „relational-existentielle“ Art des religiösen Denkens in der ostsyrischen Kirche berge aber die Chance, die durch das „statisch- oder naturhaft-ontologische“ Denken (vor allem des Hellenismus) später hinzu- gekommenen dogmatischen Festlegungen zu relativieren, die sich als trennende Barrieren zwischen Christentum und Islam geschoben hätten. 1 Vgl. Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran, Hildesheim 1971 (Nachdruck von 1931). 2 Im Babel-Bibel-Streit wurde von Friedrich Delitzsch in seinem Vortrag von 1902 „Babel und Bibel“ und 1921 in seinem Buch Die große Täuschung behauptet, dass a) das aus dem Alten Babylonien stammende Material die Grundlage des Alten Testaments, dass b) das Judentum unter die heidnischen Religionen zu rechnen und dass c) das Alte Testament für die christliche Kirche schlechterdings ohne Bedeutung und entbehrlich sei (s. dazu H.-J. Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1969, §73, S. 309ff., 313). In dieselbe Richtung ging Peter Jensen, Das Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur, Bd. I, Straßburg 1906; Bd. II, Leipzig 1928; ders., Moses, Jesus, Paulus – drei Varianten des babylonischen Gottmenschen Gilgamesch, Straßburg 1910 (s. dazu Hermann Gunkel, „Jensens Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur“, in: Karl Oberhuber (Hg.), Das Gilgamesch- Epos, WdF 215, Darmstadt 1977, S. 74-84). 3 Vgl. H.-J. Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, aaO., S. 331f. 4 Wir nennen hier pars pro toto vor allem die im Verlag Hans Schiler, Berlin, erschienenen Studien und Aufsatzsammlungen: G.-R. Puin / K.-H. Ohlig (Hg.), Die dunklen Anfänge, 2007; K.-H. Ohlig, Der frühe Islam, 2007; Chr. Burgmer / Chr. Luxenberg u.a., Streit um den Koran, 2007; M. Groß / K.-H. Ohlig (Hg.), Schlaglichter: Die beiden ersten islamischen Jahrhunderte, 2008; dies., Vom Koran zum Islam, 2009; dies. (Hg.), Entstehung einer Weltreligion I, 2010; Chr. Luxenberg, Die Syro-Aramäische Lesart des Koran, 2011; vgl. schon G. Lüling, Der christliche Kult an der vorislamischen Kaaba als Problem der Islamwissenschaft und der christlichen Theologie, Erlangen 1992; ders., Über den Urkoran. Ansätze zur Rekonstruktion der vorislamischen christlichen Strophenlieder im Koran, Erlangen 2004. Die Forschungs- richtung ist weiterhin literarisch produktiv, ohne dass sich bisher die Evidenz ihrer Hypothesen erhöht. 5 So auch schon in seinem Aufsatz: ders., „Die syrischen Wurzeln des Christentums“, in: Hans-Joachim Tambour / Sr. Friederike Immanuela Popp, Geschichten verändern Geschichte, Schriftenreihe der Deut- schen Universität in Armenien, Bd. 5, Taufkirchen 2010, S. 169-205. Article / Artikel 32 HIKMA Goetze hat schon an anderer Stelle diesen gemeinsamen Ausgangspunkt, auf den er zurückführen möchte, wie folgt beschrieben: Das aramäische6 Denken „kann das Welt- und Gottesverständnis nicht mit festen Begriffen definieren und kommt daher zu keinen statisch-ontologischen (naturhaften) Aussagen im Sinne von: ‚Gott ist so und so’ (z.B. ‚Gott ist der Allmächtige‘). Für das aramäische Denken ist die relational-existentielle Be- schreibung der Beziehung zwischen Gott und der Welt bzw. der Menschheit wesentlich: ‚Gott verhält sich zum Menschen treu und zuverlässig.‘“7 Im Mittelpunkt des relational- existentiell orientierten aramäischen Denkens stehe „Gottes Wirken und seine Funktion für die Menschen“ (S. 65) und nicht der Versuch statisch-ontologischer Verobjektivierungen des göttlichen Geistes in fixierter Dogmatik und Ritenfrömmigkeit. Eine solche Art des Glaubens sei erst durch hellenistische Beeinflussung entstanden. Hierzu beruft sich Goetze vor allem auf Aphrahats Namenschristologie, die er als im Wesentlichen vorhellenistisch interpretiert: Der Name wird zu einer bloßen Umschreibung für die Gottheit selbst: „Durch die Namen wird das Wesen Gottes beschrieben, die Namen geben das Wesen Jesu Christi wieder. Sie tun dies allerdings, ohne das Wesen Gottes bzw. Christi statisch-ontologisch wie im hellenistischen Denken festzuschreiben […].“ Goetze fährt fort: „Nur wenn sich der Mensch hineinnehmen lässt in die Gottesgeschichte, kann er Erfahrungen mit Gott in der Geschichte machen und durch ‚Namen‘ dieser Begegnung mit dem Geheimnis Gottes Ausdruck geben. Starres Sein ist nicht existent. Nur ein Sein, das in innerer Verbindung zu etwas Aktivem, sich Bewegendem liegt, ist eine wahrnehmbare Realität. Die Frage: ‚Wer ist Jesus?‘ wird im Sinne des aramäischen Denkens durch die Antwort auf die Frage: ‚Was bewirkt Jesus?‘ beantwortet. So ist Jesus ‚Mose‘, ‚Prophet‘ und ‚Sohn Gottes‘, weil er sich in den Begegnungen mit den Menschen bewahrheitet bzw. bewährt hat“ (S. 81f., 118 u.ö.) Diese Rückkehr zum aramäischen Denken ist Goetze zufolge insofern von größter Bedeutung für das Verhältnis des Christentums zum Islam, „weil es auffordert, das letzt- lich ursprüngliche gemeinsame Erbe aus dem großsyrischen Raum und dem Ostiran zu würdigen und von daher erst die unterschiedlichen Ausprägungen des Glaubens in den Blick zu nehmen“ (S. 377). Zurückgeführt auf dieses gemeinsame Erbe aramäischen Den- kens hebe sich nämlich der dogmatische Zwang auf, Gott nur „innerhalb von Religions- gemeinschaften“ zu glauben, in denen das Wesen Gottes, sich zum Menschen treu und zuverlässig zu verhalten, sekundär „verobjektiviert“ worden sei: das hätte zu statisch- trennenden Gottesbildern und erstarrten Doktrinen geführt und damit zur Abgrenzung der Religionen voneinander. Auf der Basis des in der Ostkirche erhalten gebliebenen aramäi- schen Denkens würde dagegen deutlich werden, dass Juden, Christen und Muslime fak- tisch zu demselben Gott beteten, auch wenn sie jetzt nicht in allen Punkten von ihm das Gleiche glaubten (S. 377). Sich im interreligiösen Dialog auf diesen zentralen Punkt des 6 Goetze spricht hier auch vom „semitischen Kulturkreis“ (aaO., S. 64f.), „hebräischen“ (64f., 70, 79) und schließlich „aramäischen“ (S. 63ff., 68, 79, 81f.) und syrisch-aramäischen (S. 80) Denken. Diese schillern- de Terminologie dient ihm dazu, auch das AT und das Judentum in das von ihm beschriebene „relational- existentielle“ aramäische Denken (das nach Ansicht Goetzes sicher auch in den ältesten literarischen Schichten des NT vorliegt), uploads/Religion/ hikma-iv-art-2.pdf
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- Publié le Fev 26, 2022
- Catégorie Religion
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