Panorama der Lexikalischen emantik Thematische Festschrift aus Anlaß des 60. Ge
Panorama der Lexikalischen emantik Thematische Festschrift aus Anlaß des 60. Geburtstags von Horst Geckeler Herausgegeben von Ulrich Hoinkes Sonderdruck 1995 gnw Gunter Narr Verlag Tübingen It. cazzo WOLFGANG SCHWEICKARD 1. It. cazzo ist seit Meo de' Tolomei (gest. ca . 1310) in der Bedeutung 'männliches Glied' belegt: "Tu porti '1 gonfalon degli sciaurati figliuol di quella c'ha '1 cul A rodente, ehe tutti i cazzi del mondo ha stancati" 1 . Im Gegenwartsitalienischen gehört cazzo in seiner eigentlichen Bedeutung der vulgären Umgangssprache an2 und steht in Opposition zu den Bezeichnungen der gehobenen Schrift- sprache bzw. der medizinischen Fachsprache wie pene, membro . Aus der Fülle weiterer umgangs- und vulgärsprachlicher Bezeichnungen für den `Penis' 4 hebt sich cazzo durch seine hohe Frequenz' und seine überregionale Verbreitung hervor 6. 2. Die Etymologie von cazzo ist umstritten'. Crevatin 1977 stellt cazzo zu ocazzo `maschio dell'oca' ("con discrezione dell'iniziale per sandhi sintattico", 73). Die formale und seman- tische Entwicklung bietet prinzipiell keine Probleme (so weist etwa it. uccello entsprechen- de Entwicklungsformen auf 8), außerdem vermag Crevatin Belege für oco in der Bedeutung 1 GDLI s.v. — Ich danke Max Pfister (Saarbrücken) für die Überlassung der umfangreichen Materialien des LEI zu cazzo (der Artikel wird unter dem Etymon *cATTIA bzw. CYATHION erscheinen); die grammatikalischen Abkürzungen in Abschnitt 4. folgen dem System des LEI. — Für Kritik und Anregungen danke ich Martin Gleßgen (Jena) und Fabio Marri (Bologna). 2 Dementsprechend wird cazzo in den Wörterbüchern als "triv." (Devoto/Oli 1990) oder "volg." (Garzanti 1987; Palazzi/Folena 1992; Zingarelli 1993) markiert. — Charakteristisch für den vul- gärsprachlichen Gebrauch sind Syntagmen wie cazzo duro und cazzo gonfio `membro virile in erezione' (Porci 1976, 13) oder pigliare cazzi `cercare avventure sessuali' (Rossi Castelli/Tamarozzi 1991, 37: "Eh, cosa fai 11, pigli cazzi?"). 3 Cf. Galli de' Paratesi 1964, 91s. 4 Cf. Radtke 1979, 158-176. 5 Bezeichnend für den Signalcharakter des Wortes ist auch der Beginn des Kultromans Porci con le ah: "Cazzo. Cazzo cazzo cazzo. Figa. Fregna ciorgna. Figapelosa, bella calda, tutta puzzarella. Figa di puttanella". 6 Für die Fülle dialektaler Belege cf. den Artikel CYATHION des LEI. Cf. DELI s.v.; GAVI s.v. Cf. LEI 3,2223-2225. — Auch in anderen Sprachen ist dieser Typus von Bedeutungsentwicklung geläufig, cf. für das Deutsche Küpper s.vv. Hahn, (Penis') und Vogel io ; "Der Hosenschlitz gilt als 'Starenkasten' und 'Taubenschlag"). 606 Wolfgang Schweickard `membro virile' anzuführen: menarse l'oco `masturbarsr , etc. (73; cf. LEI 3,2150). Sein Vorschlag kann jedoch letztlich aus mehreren Gründen nicht überzeugen: (1) Die gesamte, auch dialektale Überlieferung von cazzo `pene' weist keinen Reflex des anlautenden o- auf; umgekehrt bietet auch die Überlieferung von ocazzo `maschio dell'oca' keinen Hinweis auf einen übertragenen Gebrauch (cf. GDLI s.v.). (2) Die Verbreitung der Ableitung ocazzo in der eigentlichen Bedeutung erscheint zu beschränkt (cf. LEI 3,2141), als daß daraus die Entstehung eines semantisch und geogra- phisch so breit gefächerten Wortfeldes wie desjenigen von cazzo sinnvoll erklärbar wäre. (3) Die Chronologie der Belege weist ocazzo weitaus später aus als cazzo (ante 1492, Bellincioni, GDLI vs. ante 1310ca., Meo de' Tolomei, ib.). Unter diesen Umständen erscheint die Zuordnung von cazzo zu cazza in der Bedeutung `mestolo', 'Koch-, Rührlöffel' einleuchtender, die erstmals von Prati 1937 vorgeschlagen wurde: "Cazzo deriva con facilitä dall' it.ant. cazza, che ebbe il senso di 'inestola— (92). Formal sind auch hier keine Probleme erkennbar. Der Genuswechsel erklärt sich durch den Bezug auf das männliche Geschlechtsorgan 9. Der Typus des semantischen Übergangs auf der Grundlage der semantischen Komponenten 'Stab, Stock' ist nachvollziehbar und anhand entsprechender Fälle zu erhärten'''. Eine interessante semantische Entsprechung hierzu findet sich auch im Deutschen: "Dein Rührlöffel taugt doch für meinen Suppentopf am besten. Und wenn Du kochst, mein Junge, dann rühre nur kräftig, denn meine Suppe kann es gut vertragen! Ach, jetzt ist mir gerade nach Deinem freundlichen Rührlöffel! Was er wohl macht? Für welche Suppe wird er heute nacht gebraucht? Ach, Leo...! Komme und tröste mich, Dein Zuckerjulchen" (Schrader 1976, 57) 11 . Wichtig ist auch, daß cazza selbst bereits im 13. Jh. bei Rustico Filippi (gestorben zwischen 1291 und 1300) in übertragener Bedeutung erscheint, worauf Prati 1939 (192) hinweist. Die Stelle lautet: "Fastello, messere fastidio dela caza, dibassa i ghebellini a dismisura, e tutto il giorno aringa im sula piaza e dicie ch' e' lgli . tiene 'n aventura" 12. Darüber hinaus spricht für die Annahme einer Verbindung von cazzo mit cazza `mestolo', daß auch mestolo im Gegenwartsitalienischen in der Bedeutung `membro virile' belegt ist 9 Cf. Prati 1939, 192; Galli de' Paratesi 1964, 92. 1° Cf. dazu Galli de' Paratesi 1964, 93; Prati 1939, 191s. Die Korrespondenz ist fiktiv. — Bornemann 1974 verzeichnet Kelle 'Penis'. 12 Zitiert nach CLPIO 1,529; cfr. PoetiDuecentoContini 2,361 (mit der Anmerkung: "Un emendamento del Marti (le per la) fa un plurale del vocabolo finale e precisa meglio l'interpretazione "oscena, che oggi politamente tradurremmo con un `rompiscatole'", giä assegnata all'espressione"). Der Beleg fehlt in der Dokumentation des GDLI s.v. cazza. It. cazzo 607 (cf. Radtke 1979, 168); wie cazzo und cazzone weisen schließlich auch mestolo und mesto- lone den Bedeutungsübergang zu 'Dummkopf' auf (cf. Galli de' Paratesi 1964, 92). Damit gehört it. cazzo zu cazza und mit diesem über mittellat. *CATTIA (12. Jh., FEW 2/2, 1603) letztlich wohl zu CYATH1ON (cf. REW 2434, FEW 2/2, 1600ss.). 3. Der Tabucharakter des Wortes cazzo spiegelt sich in der Dokumentation insbesondere der historischen Wörterbücher. Während die eigentliche sexuelle und vulgärsprachliche Bedeu- tung kaum belegt wird, sind die weniger verfänglichen übertragenen Bedeutungen gut verzeichnet. Die Dokumentation des GDLI, die nur zwei Belege für die eigentliche Bedeu- tung von cazzo bietet, ist daher für die tatsächliche Wortgeschichte kaum repräsentativ. Auch TB nennt nur wenige Quellen (Pataffio, Franco Sacchetti, Bellincioni) für cazzo in der Bedeutung `membro virile ("voce plebea ed oscena")' und verzichtet im Gegensatz zu den sonstigen Gepflogenheiten auf Kontextbelege. Noch in manchen Wörterbüchern des 20. Jh. wie z.B. bei Palazzi 1940 und selbst bei De Felice/Duro 1974 fehlen Einträge für cazzo gänzlich; in der Regel verzeichnen die neueren gemeinsprachlichen Wörterbücher cazzo jedoch durchweg mit den wichtigsten Bedeutungen (Devoto/Oli 1990; Palazzi/Folena 1992; Zingarelli 1993; wichtige zusätzliche Informationen bieten DPN und insbesondere Forconi 1988). Ältere Belege für cazzo und seine Ableitungen finden sich vor allem in den Wörter- büchern von Florio, Oudin und Veneroni: cazzetto und cazzino `piccolo membro virile' (Veneroni 1681; LEI), cazzaria `un trattato sul membro virile' (Oudin 1643; Veneroni 1681; LEI), cazzuto `dotato di un grosso membro' (Florio 1598 — Veneroni 1681; LEI), incazzare v.assol. 'essere eccitato sessualmente' (Florio 1598 — Veneroni 1681; LEI), incazzire 'essere in fregola' (Florio 1598 — Veneroni 1681; LEI), cazzipotente 'molto virile' (Florio 1611; LEI), cazzo ritto `membro virile in erezione' (Florio 1598 und 1611; LEI). 4. Häufiger als der ursprüngliche Gebrauch ist die Verwendung von cazzo und einer Vielzahl von Ableitungen und Komposita in übertragenen Bedeutungen. Wie bei vielen anderen Lexemen aus Tabubereichen (merda, etc.) geht mit der uneigentlichen Verwen- dung, die zunächst einen Tabubruch darstellt, eine besondere expressive Konnotation einher, die sich schließlich mit zunehmender Gebrauchshäufigkeit und Gewöhnung naturge- mäß abschwächt. Nach Maßgabe der Beleglage sind übertragene Verwendungen seit dem 15. Jh. gebräuchlich (cf. 4.1.) und erfahren seither eine stetig zunehmende Verbreitung. Eine besondere Dynamik beim Gebrauch von cazzo und Ableitungen ist in der Folge der Liberalisierung nach der Protestbewegung des italienischen "Sessantotto" zu erkennen 13. 13 Cf. dazu auch Vassalli 1989: "Nei banali anni Ottawa, di pensiero debole, l'uso 'forte' della parola cazzo quasi non esisteva piü. 11 ricorrere del cazzo nel discorso quasi non ne alterava ii significato 116 si sostituiva ad esso, ma [...] serviva piuttosto a modularlo, a scandirlo, a semplificarlo; serviva anche a dare voce ai sentimenti, per quanto la cosa possa sembrare strana o, piü ancora che strana, ardua: la parola cazzo e un elemento musicale in grado di esprimere una gamma quasi infinita di sentimenti" (20). 608 Wolfgang Schweickard 4.1. Semantisch dominant ist beim übertragenen Gebrauch von cazzo die Komponente der Geringschätzung oder des Ärgers in bezug auf Personen, Sachen oder Situationen. Im einzelnen sind hier die folgenden Belege zu nennen: (1) cazzo m. 'individuo oltremodo sciocco, citrullo' (zuerst ante 1492, Bellincioni, GDLI; LEI). (2) Derivati: cazzone m. 'persona sciocca, tonta, buona a nulla' (bei GDLI 1962 ohne semantische Präzisierung genannt; danach seit Zingarelli 1970; LEI) 14 und cazzona f. (Forconi 1988; Zingarelli 1993), cazzaccio m. 'uomo stupido' (seit 1887-1891, Petrocchi; Panzini 1950; LEI), cazzu/ano m. Individuo estremamente rozzo, grossolano, dai modi primitivi, ottusamente viroloidi, capace solo di fare bnitte figure (specialmente nei confronti delle donne)' (Lotti 1984), cazzetto m. 'uomo piccolo, ragazzino' (seit GDLI 1962; LEI), cazzuto agg. 'faticoso, pieno di ostacoli e di difficoltä' (Forconi 1988; Zingarelli 1993) 15, cazzaro m. 'impiccione, persona che non si fa i fatti suoi' (Forconi 1988; Zingarelli 1993) 16, agg. `che, chi e sciocco, stupido, inetto' (Zingarelli 1993), cazzata f. 'cosa stupida, balorda, priva di senso' (seit 1964, Galli de' Paratesi; Zingarelli 1993; LEI) 17, cazzate//o m. `(scherz.) uomo di piccola statura, ragazzino' (prima del 1733, Parini, GDLI — Panzini 1950; LEI), cazzotto m. 'colpo violento vibrato col pugno chiuso' (seit 1612, Cnisca; Zingarelli 1993; LEI) sowie uploads/Geographie/ panorama-der-lexikalischen-emantik-herausgegeben-von-ulrich-hoinkes.pdf
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- Publié le Fev 09, 2021
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