Fakultät für Kultur- und Sozialwissen­ schaften Uwe C. Steiner „Die maaßlose Ge

Fakultät für Kultur- und Sozialwissen­ schaften Uwe C. Steiner „Die maaßlose Gewalt der Geräusche“ Eine Einführung in die Literatur- und Kulturgeschichte des Hörens Zweiter Teil Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbrei­ tung sowie der Übersetzung und des Nachdrucks, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der FernUniversität reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir weisen darauf hin, dass die vorgenannten Verwertungsalternativen je nach Ausgestaltung der Nutzungsbedingungen bereits durch Einstellen in Cloud- Systeme verwirklicht sein können. Die FernUniversität bedient sich im Falle der Kenntnis von Urheberrechtsverletzungen sowohl zivil- als auch strafrechtlicher Instrumente, um ihre Rechte geltend zu machen. Der Inhalt dieses Studienbriefs wird gedruckt auf Recyclingpapier (80 g/m2, weiß), hergestellt aus 100 % Altpapier. Inhaltsverzeichnis III Inhaltsverzeichnis 5 Realistische Hörwelten und Klanglandschaften ................................................................. 4 5.1 Eine Tragödie des Hörens: Wagners Tristan und Isolde................................................ 4 5.2 Sinnesphysiologie im 19. Jahrhundert ...................................................................... 10 5.3 Literarischer Realismus des Hörens ........................................................................... 12 5.3.1 Lyrische Sonographie: Conrad Ferdinand Meyer ................................................ 12 5.3.2 Realistische Klanglandschaften ......................................................................... 16 5.3.3 Theodor Fontane: Effi Briest ............................................................................. 21 5.3.4 „Unruhige Gäste“: Raabes Klanglandschaften .................................................. 23 5.3.5 Mit Hanno Buddenbrook stirbt das 19. Jahrhundert auch akustisch ................... 37 6 Hören im audiotaktilen Zeitalter ..................................................................................... 40 6.1 Zusammenfassung und Einleitung ins 20. Jahrhundert.............................................. 40 6.1.1 Großstadtklänge .............................................................................................. 45 6.1.2 Totalitäre Akustik ............................................................................................. 52 6.2 „Jener weite reine Gehörraum“. Resonatorische Poetiken bei Döblin und Rilke ......... 63 6.2.1 Döblin ............................................................................................................. 63 6.2.2 Rilke ................................................................................................................ 67 6.3 Grammophonie und ihre kulturellen Resonanzen in Thomas Manns Der Zauberberg 82 6.3.1 Technisches Update des romantischen Hörens .................................................. 86 6.3.2 Audiophilie und Fetischismus ............................................................................ 88 6.3.3 Anachronismus und Elektrizität ......................................................................... 92 6.3.4 Resümee .......................................................................................................... 95 7 Ausblick: Sonosphären nach 1945................................................................................ 101 7.1 Auditiver Populismus ............................................................................................. 103 7.2 Klänge der Heimat. Geräusche des Globalen: Akustik in Michael Kleebergs Roman Vaterjahre ....................................................................................................................... 107 7.3 Wolfgang Büscher: Resonanzen im neuen Jahrtausend........................................... 114 8 Nachwort .................................................................................................................... 123 Bibliographie ....................................................................................................................... 126 Realistische Hörwelten und Klanglandschaften 4 5 Realistische Hörwelten und Klanglandschaften 5.1 Eine Tragödie des Hörens: Wagners Tristan und Isolde Wir hatten in den Nachtwachen des Bonaventura einen enharmonischen Umschlag vom objekti- ven in den subjektiven Raum festgestellt. (Vgl. Teilband 1, Kap. 4.3.2) Darin dokumentierte sich die Krise des romantischen Hörens. An die Stelle einer sympathetischen Resonanz zwischen Sub- jekt und Welt trat ein nihilistisches Bewusstsein, dem keine Instanz mehr garantierte, den inne- ren Klängen entspräche eine sinnerfüllte Außenwelt. Man könnte nun sagen, dass an dieser Problemstelle der Umschwung von romantischen Model- len in realistische Modelle einsetzt. Der Realismus beginnt dort, so meine anfängliche Hypothe- se, wo die Übereinstimmung zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiven Verhältnissen problematisiert wird und wo, anders als bei Bonaventura, letztere den Ausschlag geben. Das Subjektive am Hören wird nicht etwa geleugnet. Aber es wird nun auch einer objektivierenden Betrachtung unterzogen. Es gibt nun ein Werk, das üblicherweise der (musikalischen) Romantik zugeordnet, das hier aber als ein Gebilde verstanden wird, das so nur unter realistischen Vorzeichen entstehen konnte: Wagners Tristan und Isolde von 1857. Die – hier nur anzudeutende – These lautet, Wagner sei ästhetisch wie epistemologisch eher als Realist denn als Romantiker zu verorten. Seine Stoffe mögen romantisch sein, seine Verfahren, wie schon Zeitgenossen bemerkt haben, sind womög- lich nicht nur wirkungsästhetisch realistischer Natur.1 Inwiefern, lässt sich an seinem Umgang mit der Enharmonik begreifen. Wenn man nämlich Enharmonik als die Differenz zwischen Schall und Ton begreift, dann hat man eine epistemologische Differenz, die nicht ins hörende Subjekt, sondern in die gehörte Wirklichkeit selbst fällt. Enharmonik ist also die Differenz zwi- schen Schall und Ton, wenn man den Ton als gehörten Ton begreift. Zugleich handelt es sich um ein empirisch oder historisch fundiertes Transzendental: Die enharmonische Verwechslung setzt ja bekanntlich das System der wohltemperierten Stimmung voraus. Sie resultiert daher aus einer Wissenspraxis und einer materiellen Praxis. Daher darf man die enharmonische Verwechs- lung ja nicht etwa als einen kognitiven Fehlschluss missverstehen, als ein subjektives Verkennen der objektiven Tonnatur. Sie repräsentiert vielmehr ein reales Geschehen in einem Gravitations- feld, in dem Schall und Hören um einen gemeinsamen Massemittelpunkt kreisen. Wagners En- harmonik ist daher nachromantisch, sie hat einen realistischen Kern, sie verweist auf eine nach- kopernikanische Epistemologie. (Vgl. Teilband 1, Kap. 1.5) Bekanntlich gilt Richard Wagners Musikdrama Tristan und Isolde als ein Schlüsselwerk der Musikgeschichte, weil es das Prinzip der Chromatik, und _________________________________________________ 1 Vgl. zum Realismusdiskurs in der Musik Martin Geck: Zwischen Romantik und Restauration. Musik im Realismus-Diskurs der Jahre 1848-1871, Stuttgart 2001. Vgl. zu Wagner u.a. S. 106, S. 156. Enharmonik Prinzip der Chromatik Eine Tragödie des Hörens: Wagners Tristan und Isolde 5 zumal das Mittel der enharmonischen Verwechslungen auf die Spitze treibt. Ein näherer Blick (vor allem) auf den Text ergibt rasch den Befund, dass das Drama das, was es auf der kompositorischen Ebene betreibt, auf der Ebene der Handlung reflek- tiert. Es führt damit vor Ohren, was Friedrich Nietzsche später, von Wagner inspiriert, als „Ge- burt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ bezeichnen sollte. Wagner hätte sich nun durch- aus für den Tristan der Gattungsbezeichnung „Tragödie des Hörens“ bedienen können, die erst Luigi Nono seinem Prometeo verleihen sollte. Denn der Tristan thematisiert in Anlehnung an und in Abgrenzung von der romantischen Tradition eine ästhetische Reflexion des Hörens. Ja, in ihm ereignet sich, was Jean Paul einmal „Hören des Hörens“ genannt hatte.2 Jeder der drei Akte von Tristan und Isolde beginnt mit einer Szene des Hörens, und mit Szene des Hörens meine ich nicht einfach eine Szene, in der gehört wird, sondern vielmehr eine, in der das Hören szenische, raumerschaffende Qualität erlangt, um nachfolgend den dramatischen Plot selbst gleichsam aus sich heraus zu gebären.3 Das Drama bringt sich selbst aus Akten und Aktionen des Hörens hervor, Wagner selbst hat seine Bühnen- werke als ersichtlich gewordene „Thaten der Musik“ bezeichnet.4 Und eben darin entwirft Wagner eine implizite Epistemologie des Hörens, in der das maßgebliche Mittel der musikali- schen Komposition, eben die enharmonische Verwechslung, Realitäten und Irrealitäten des Hö- rens befragt. Wenn sich der Vorhang zum ersten Akt öffnet, verklingt gerade das Vorspiel. In den Kontrabäs- sen ertönt zuletzt noch in tiefster Lage das Todesmotiv, dann schweigt das Orchester. An seiner Stelle hören wir jetzt eine Stimme, deren Besitzer wir nicht sehen: die Stimme eines jungen Seemanns, „aus der Höhe, wie vom Maste her vernehmbar“, so die Regieanweisung. Der See- mann, den wir nicht sehen, singt die folgenden Worte: „West-wärts schweift der Blick; ost-wärts streicht das Schiff. Frisch weht der Wind der Heimat zu: – mein irisch Kind, wo weilest du? Sind's deiner Seufzer Wehen, die mir die Segel blähen? – _________________________________________________ 2 Jean Paul: Dr. Katzenbergers Badereise. Sämtliche Werke. Hg. v. Norbert Miller, München 1959- 1978, Bd. I/6, S. 244. 3 Vgl. Friedrich Kittler: Weltatem. Über Wagners Medientechnologie, in: Diskursanalysen 1, hg. von dems., Manfred Schneider u. Samuel Weber, Opladen 1987, S. 94-107, und, davon ersichtlich beein- druckt, Uwe C. Steiner: Resonanz und Raisonnement. Skizzen zu einer Theorie medientechnischer Selbstreferenz im Musikdrama Wagners, in: Athenäum 1 (1991), S. 163-187. 4 „Fast wäre ich geneigt gewesen, mich auf die Sichtbarkeit desselben einzig zu berufen, und somit an das ‚Schauspiel‘ mich zu halten, da ich meine Dramen gern als ersichtlich gewordene Thaten der Mu- sik bezeichnet hätte.“ Richard Wagner: Über die Benennung „Musikdrama“. Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, Leipzig o.J. (1911), Bd. 9, S. 306. Enharmonische Verwechslung Wagners Epistemo- logie des Hörens Realistische Hörwelten und Klanglandschaften 6 Wehe! Wehe, du Wind! Weh'! Ach wehe, mein Kind! Irische Maid, du wilde, minnige Maid!“ (Hv. U. St.) Dieses Akusma zu Beginn, diese anfänglich ohne sichtbaren Sprecher bzw. Sänger erklingenden Worte, enthalten bereits das Drama in nuce. Betrachten wir die im Zitat hervorgehobenen Worte. Sie spielen mit dem rhetorischen Mittel der Homony- mie. Denn was heißt „Wehe, du Wind!“ bzw. „Wehe, mein Kind“? Das „Wehe“ ist einmal der Imperativ, mit dem der Seemann das Element heißt, ihn und das Schiff von seiner Geliebten fort zu treiben. Und das „Wehe“ ist als Schmerzlaut der Ausdruck des Bedauerns darüber. Man könnte also sagen, dass sich hier das musikalische Mittel der enharmonischen Verwechslung in sprachlicher Gestalt niederschlägt. Und zwar nicht allein der Homonymie wegen, sondern vor allem aufgrund des semantischen Gehalts dieser konkreten Homonymie: Der Imperativ „Wehe, du Wind“ befiehlt den Vorgang, den der Klagelaut um die Geliebte bedauert: Er heißt das Schiff sich weg von dieser zu bewegen, als sollte dem zurückblickenden Klagenden der Schmerz erst ermöglicht werden. Ein und dieselbe Lautgestalt, „Wehe“, strebt also in gegenläufige Richtungen, wie der physika- lisch an und für sich identische chromatische Ton in zwei verschiedene Tonarten. Mit einer refe- rentiellen Verwechslung – Isolde fühlt sich in der minnigen irischen Maid adressiert – setzt nun das Drama ein, dessen Protagonist Tristan, wenn er Isolde als Brautwerber für Marke gegenüber- tritt, die Anziehungs- und Abstoßungsgebärde des jungen Seemanns wiederholt. Es ließe sich nun leicht eine Textanalyse anschließen, die vergleichbare semantische Mehrdeutigkeiten, Täu- schungen und Verwechslungen zuhauf wiederfände. Noch einmal sei es gesagt: Der dramatische Konflikt auf der uploads/Litterature/ 26303-6-03-s2-vorschau.pdf

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