Wissenschaftliche Weltauffassung Der Wiener Kreis Veröffentlichungen des Verein
Wissenschaftliche Weltauffassung Der Wiener Kreis Veröffentlichungen des Vereines Ernst Mach, hrsg. vom Verein Ernst Mach. Artur Wolf Verlag, Wien 1929, 59 S. Das Werk hat keine offiziell genannten Verfasser. Moritz Schlick gewidmet. INHALTSVERZEICHNIS Seite I. Der Wiener Kreis der wissenschaftlichen Weltauffassung 301 1. Vorgeschichte 301 2. Der Kreis um Schlick 303 II. Wissenschaftliche Weltauffassung 305 IH. Problemgebiete 308 1. Grundlagen der Arithmetik 308 2. Grundlagen der Physik 310 3. Grundlagen der Geometrie 311 4. Grundlagen der Biologie und Psychologie 312 5. Grundlagen der Sozialwissenschaften 313 IV. Rückblick und Ausblick 313 Literaturhinweise 315 Bibliographie 316 1. Mitglieder des Wiener Kreises 317 (Bergmann, Carnap, Feigl, Ph. Frank, Gödel, Hahn, Kraft, Menger, Natkin, Neurath, O. Hahn-Neurath, Radakovic, Schlick, Waismann) 2. Nahestehende Autoren 328 (Dubislav, J. Frank, Grelling, Härlen, Kaila, Loewy, Ramsey, Reichenbach, Reidemeister, Zilsel) 3. Führende Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung 332 (Einstein, Russell, Wittgenstein) 299 Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis Geleitwort Anfang 1929 erhielt Moritz Schlick einen sehr verlockenden Ruf nach Bonn. Nach einigem Schwanken entschloß er sich, in Wien zu bleiben. Ihm und uns wurde bei die- ser Gelegenheit zum erstenmal deutlich bewußt, daß es so etwas wie einen „Wiener Kreis" der wissenschaftlichen Weltauffassung gibt, der diese Denkweise in gemeinsa- mer Arbeit weiterentwickelt. Dieser Kreis hat keine feste Organisation; er besteht aus Menschen gleicher wissenschaftlicher Grundeinstellung; der einzelne bemüht sich um Eingliederung, jeder schiebt das Verbindende in den Vordergrund, keiner will durch Besonderheit den Zusammenhang stören. In vielem kann der eine den anderen vertre- ten, die Arbeit des einen kann durch den anderen weitergeführt werden. Der Wiener Kreis ist bestrebt, mit Gleichgerichteten Fühlung zu nehmen und Einwir- kung auf Fernerstehende auszuüben. Die Mitarbeit im Verein Ernst Mach ist der Aus- druck für dieses Bemühen; Vorsitzender dieses Vereins ist Schlick, dem Vorstand ge- hören mehrere Mitglieder des Schlickschen Kreises an. Der Verein Ernst Mach veranstaltet gemeinsam mit der Gesellschaft für empirische Philosophie (Berlin) am 15. und 16. September 1929 in Prag eine Tagung für Erkennt- nislehre der exakten Wissenschaften im Zusammenhang mit der gleichzeitig dort statt- findenden Tagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und der Deutschen Mathematikervereinigung. Neben speziellen Fragen soll dort auch Grundsätzliches er- örtert werden. Es wurde beschlossen, anläßlich dieser Tagung die vorliegende Schrift über den Wiener Kreis der wissenschaftlichen Weltauffassung zu veröffentlichen. Die Schrift soll Moritz Schlick im Oktober 1929 bei seiner Rückkehr von der Gastprofes- sur an der Stanford-Universität, Kalifornien, überreicht werden als Zeichen des Dan- kes und der Freude über sein Bleiben in Wien. Der zweite Teil des Heftes enthält eine Bibliographie, die in Zusammenarbeit mit den Beteiligten aufgestellt worden ist. Sie soll einen Überblick über die Problemgebiete geben, auf denen die dem Wiener Kreise Angehörenden oder Nahestehenden arbeiten. Wien, im August 1929. 300 Für den Verein Ernst Mach: Hans Hahn Otto Neurath Rudolf Carnap 1. Der Wiener Kreis der wissenschaftlichen Weltauffassung 1. Vorgeschichte Daß metaphysisches und theologisierendes Denken nicht nur im Leben, sondern auch in der Wissenschaft heute wieder zunehme, wird von vielen behauptet. Handelt es sich hiebei um eine allgemeine Erscheinung oder nur um eine auf bestimmte Kreise be- schränkte Wandlung? Die Behauptung selbst wird leicht bestätigt durch einen Blick auf die Themen der Vorlesungen an den Universitäten und auf die Titel der philoso- phischen Veröffentlichungen. Aber auch der entgegengesetzte Geist der Aufklärung und der antimetaphysischen Tatsachenforschung erstarkt gegenwärtig, indem er sich seines Daseins und seiner Aufgabe bewußt wird. In manchen Kreisen ist die auf Erfah- rung fußende, der Spekulation abholde Denkweise lebendiger denn je, gekräftigt gera- de,durch den neu sich erhebenden Widerstand. In der Forschungsarbeit aller Zweige der Erfahrungswissenschaft ist dieser Geist wis- senschaftlicher Weltauffassung lebendig. Systematisch durchdacht und grundsätzlich vertreten wird er aber nur von wenigen führenden Denkern, und diese sind nur selten in der Lage, einen Kreis gleichgesinnter Mitarbeiter um sich zu sammeln. Wir finden antimetaphysische Bestrebungen vor allem in England, wo die Tradition der großen Empiristen noch fortlebt; die Untersuchungen von Russell und Whitehead zur Logik und Wirklichkeitsanalyse haben internationale Bedeutung gewonnen. In U.S.A. neh- men diese Bestrebungen die verschiedenartigsten Formen an; in gewissem Sinne wäre auch James hieher zu rechnen. Das neue Rußland sucht durchaus nach wissenschaftli- cher Weltauffassung, wenn auch zum Teil in Anlehnung an ältere materialistische Strömungen. Im kontinentalen Europa ist eine Konzentration produktiver Arbeit in der Richtung wissenschaftlicher Weltauffassung insbesondere in Berlin (Reichenbach, Petzoldt, Grelling, Dubislav und andere) und Wien zu finden. Daß Wien ein besonders geeigneter Boden für diese Entwicklung war, ist geschichtlich verständlich. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war lange der Liberalismus die in Wien herrschende politische Richtung. Seine Gedankenwelt entstammt der Auf- klärung, dem Empirismus, Utilitarismus und der Freihandelsbewegung Englands. In der Wiener liberalen Bewegung standen Gelehrte von Weltruf an führender Stelle. Hier wurde antimetaphysischer Geist gepflegt; es sei erinnert an Theodor Gomperz, der Mills Werke übersetzte (1869-80), Sueß, Jodl und andere. Diesem Geist der Aufklärung ist es zu danken, daß Wien in der wissenschaftlich orien- tierten Volksbildung führend gewesen ist. Damals wurde unter Mitwirkung von Victor Adler und Friedrich Jodl der Volksbildungsverein gegründet und weitergeführt; die „volkstümlichen Universitätskurse" und das „Volksheim" wurden eingerichtet durch Ludo Hartmann, den bekannten Historiker, dessen antimetaphysische Einstellung und materialistische Geschichtsauffassung in all seinem Wirken zum Ausdruck kam. Aus dem gleichen Geist stammt auch die Bewegung der „Freien Schule", die die Vor- läuferin der heutigen Schulreform gewesen ist. In dieser liberalen Atmosphäre lebte Ernst Mach (geb. 1838), der als Student und (1861-64) als Privatdozent in Wien war. Er kam erst im Alter nach Wien zurück, als Der Wiener Kreis der wissenschaftlichen Weltauffassung 301 Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis für ihn eine eigene Professur für Philosophie der induktiven Wissenschaften geschâf- fen wurde (1895). Er war besonders darum bemüht, die empirische Wissenschaft, in erster Linie die Physik, von metaphysischen Gedanken zu reinigen. Es sei erinnert an seine Kritik des absoluten Raumes, durch die er ein Vorläufer Einsteins wurde, an sei- nen Kampf gegen die Metaphysik des Dinges an sich und des Substanzbegriffs sowie an seine Untersuchungen über den Aufbau der wissenschaftlichen Begriffe aus letzten Elementen, den Sinnesdaten. In einigen Punkten hat die wissenschaftliche Entwick- lung ihm nicht recht gegeben, zum Beispiel in seiner Stellungnahme gegen die Atomi- stik und in seiner Erwartung einer Förderung der Physik durch die Sinnesphysiologie. Die wesentlichen Punkte seiner Auffassung aber sind in der Weiterentwicklung positiv verwertet worden. Auf der Lehrkanzel von Mach wirkte dann (1902-06) Ludwig Boltzmann, der ausgesprochen empiristische Ideen vertrat. Das Wirken der Physiker Mach und Boltzmann auf philosophischer Lehrkanzel läßt es begreiflich erscheinen, daß für die erkenntnistheoretischen und logischen Proble- me, die mit den Grundlagen der Physik zusammenhängen, lebhaftes Interesse herrsch- te. Man wurde durch diese Grundlagenprobleme auch auf die Bemühungen um eine Erneuerung der Logik geführt. Diesen Bestrebungen war in Wien auch von ganz ande- rer Seite her, durch Franz Brentano, der Boden geebnet worden (1874 bis 1880 Profes- sor der Philosophie an der theologischen Fakultät', später Dozent an der philosophi- schen Fakultät). Brentano hatte als katholischer Geistlicher Verständnis für die Scho- lastik; er knüpfte unmittelbar an die scholastische Logik und an die Leibnizschen Be- mühungen um eine Reform der Logik an, während er Kant und die idealistischen Sy- stemphilosophen beiseite ließ. Das Verständnis Brentanos und seiner Schüler für Männer wie Bolzano (Wissenschaftslehre, 1837) und andere, die sich u m eine strenge Neubegründung der Logik bemühten, ist immer wieder deutlich zutage getreten. Ins- besondere hat Alois Höfler (1853 bis 1922) vor einem Forum, in dem durch den Ein- fluß von Mach und Boltzmann die Anhänger der wissenschaftlichen Weltauffassung stark vertreten waren, diese Seite der Brentanoschen Philosophie in den Vordergrund gerückt. In der Philosophischen Gesellschaft an der Universität Wien fanden unter Leitung von Höfler zahlreiche Diskussionen über Grundlagenfragen der Physik und verwandte erkenntnistheoretische und logische Probleme statt. Von der Philosophi- schen Gesellschaft wurden die Vorreden und Einleitungen zu klassischen Werken der Mechanik herausgegeben (1899) sowie einzelne Schriften von Bolzano (durch Höfler und Hahn, 1914 und 1921). In dem Wiener Brentano-Kreis lebte (1870-82) der junge Alexius von Meinong (später Professor in Graz), dessen Gegenstandstheorie (1907) immerhin eine gewisse Verwandtschaft mit den modernen Begriffstheorien aufweist und dessen Schüler Ernst Mally (Graz) auch auf dem Gebiet der Logistik arbeitete. Auch die Jugendschriften von Hans Pichler (1909) entstammen diesen Gedankenkrei- sen. Etwa gleichzeitig mit Mach wirkte in Wien sein Altersgenosse und Freund Josef Popper-Lynkeus. Neben seinen physikalisch-technischen Leistungen seien hier seine 1 (Anm. d. Hrsg.) Brentano lehrte als Professor an der philosophischen Fakultät der Universität Wien. 302 Der Wiener Kreis der wissenschaftlichen Weltauffassung großzügigen, wenn auch unsystematischen philosophischen Betrachtungen erwähnt (1899), sowie sein rationalistischer Wirtschaftsplan (allgemeine Nährpflicht, 1878). Er diente bewußt dem Geist der Aufklärung, wie auch durch sein Buch über Voltaire bezeugt wird. Die Ablehnung der Metaphysik war ihm mit manchen anderen Wiener Soziologen, zum Beispiel mit Rudolf Goldscheid, gemeinsam. Bemerkenswert ist, daß auch auf dem Gebiete der Nationalökonomie in Wien durch die Schule der Grenz- nutzenlehre eine streng wissenschaftliche Methode gepflegt wurde (Carl Menger, 1871); diese Methode faßte in England, Frankreich, Skandinavien Fuß, nicht aber in Deutschland. Auch die marxistische Theorie wurde in Wien mit besonderem Nach- druck gepflegt und ausgebaut (Otto Bauer, Rudolf Hilferding, Max Adler u. a.). Diese Einwirkungen von verschiedenen Seiten her uploads/Litterature/ wissenschaftliche-weltauffassung-der-wiener-kreis-1929 1 .pdf
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- Publié le Oct 15, 2021
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