DAS JÜDISCHE UND DAS JIDDISCHE BEI PAUL CELAN Vorträge über Paul Celan aus dem

DAS JÜDISCHE UND DAS JIDDISCHE BEI PAUL CELAN Vorträge über Paul Celan aus dem Nachlass von Hersch Segal (Rehovot, Israel) Aus dem Jiddischen übersetzt und bearbeitet von Meinhard E. Mayer Department of Physics University of California Irvine, CA 92697-4575, USA (Manuskript abgeschlossen 14. September 1984; Korrekturen 18. November 2003) Einleitung (Einige Worte über Hersch Segal) Mein Onkel, Hersch Segal, starb am 2. Februar 1982 in Rehovot, Israel. Unter seinen hinterlassenen Papieren fand ich Aufzeichnungen für Vorträge, die er in den letzten zehn Jahren (leider sind keine genauen Daten angegeben) vor kleineren Kreisen in jiddischer Sprache über Paul Celan in Israel hielt. Das Hauptthema der Vorträge ist der Einfluss des Judentums und des Jiddischen auf Paul Celans Dichtung und Lexik. Ich versuche hier, so weit es mir möglich war, die Texte ins Deutsche zu übersetzen und die nicht systematisch nummerierten Texte logisch zu ordnen, und womöglich einheitlich darzustellen da, wie mir scheint, Hersch Segal einige wertvolle Beiträge zur Celan-Forschung geleistet hat. Vorerst einige Worte über Hersch Segal. Hersch Segal wurde am 8. Dezember 1905 in StrzeIiska-Nowe, Galizien (Österreich-Ungarn) geboren als jüngstes Kind einer sehr frommen jüdischen Familie. Er übersiedelte mit Familie nach Putila, in der damals auch zur k. und k. Monarchie gehörenden Bukowina, wo er die deutsche Volksschule 1912-15 besuchte. Im Frühling 1915 flüchtete die Familie vor der russischen Armee nach Prag, wo er die Volksschule 1917 beendete und die erste Gymnasialklasse absolvierte. Nach dem Kriege kehrte die Familie nach Czernowitz - Celans Geburtsort - zurück und Segal bestand dort die Matura im Jahre 1925. Er studierte Mathematik an der Czernowitzer Universität und erhielt 1930 sein Diplom und 1931 die Lehrlizenz. Er war seit 1927 Mathematiklehrer an verschiedenen technischen Schulen und Gymnasien in Czernowitz. Er war vor 1940, vor allem an der ORT-Schule tätig – eine Fachschule für jüdische Schüler. Nach der ¨Befreiung¨ der Bukowina durch die Sowjetunion im Jahre 1940 war Segal Mathematiklehrer an einer der zwei jiddischen Schulen (sein Bruder, Gerschon war Physiklehrer an der anderen), wo ich auch Schüler der 5-ten Klasse war. In den Kriegsjahren 1941-1944 war er zunächst im Getto Czernowitz, und später wurde er, wie viele Juden, zu Zwangsarbeit eingezogen. Nach der Befreiung durch die Sowjetarmee, 1944 -1946, war Hersch Segal wieder Mathematiklehrer in der jiddischen Schule in Czernowitz, in der auch ich Schüler war (der antisemitische Verfolgungswahn Stalins fing erst später, 1948, an, als das jiddische Theater, die Schulen und Zeitungen geschlossen wurden und die jiddischen Dichter und Schauspieler von den Sowjets ermordet wurden). Im Jahre 1946, in einem Versuch Czernowitz "judenrein" zu machen, erlaubte Chruschtschow die Auswanderung der Juden aus Czernowitz nach Rumänien. Hersch Segal und sein Bruder, Gerschon, kamen nach der Kreisstadt Bac u, wo sie am Gymnasium Mathematik, bzw. Physik lehrten, und bis zu ihrer Auswanderung, im Jahre 1962, lebten. Im Jahre 1962 gelang es uns, die wir im Vorjahr nach Wien ausgewandert waren, die Brüder Segal durch Lösegeld frei zukaufen. Sie wanderten nach Israel aus, wo Hersch bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1973 am Gymnasium Rischon-le-Zion tätig war. Er war nicht nur ein hervorragender Pädagoge in seinem Spezialfach, Mathematik, sondern es gelang ihm auch viele seiner Schüler -- und besonders Schülerinnen — für Dichtung zu interessieren. Als Schüler in einer seiner Klassen erinnere ich mich nur zu gut, dass er es immer merkte, wenn uns die Trigonometrie oder Algebra zu viel wurde, und er verstand es immer ein Gedicht vorzulesen, oder eine Anekdote aus der Geschichte der Mathematik zu erzählen, und so das Interesse der Schüler wachzuhalten. In den dreißiger Jahren, als er als Jude in Rumänien keine Chance hatte, an einem Gymnasium zu unterrichten, war er an der ORT-Schule — zu einem von jüdischen Wohltätigkeitsorganisationen in den Vereinigten Staaten erhaltenes Netz von Fachmittelschulen gehörig — in Czernowitz als Mathematiklehrer tätig und nutzte einen großen Teil seines kaum reichlichen Gehalts für die Herausgabe von Gedichten von noch unbekannten jiddischen Dichtern und von Sammlungen unbekannter Maler. Unter den vom ihm damals veröffentlichten Werken will ich nur die "Naje jidische dichtung" (siehe Literaturverzeichnis am ende dieses Artikels) hervorheben - ein kleines Heft wo jiddische Gedichte in einer lateinischen Transkription wiedergegeben sind, wie auch die ¨Lider mit nigünim" von Selig Barditschewer, einem "Chansonnier" aus Bessarabien, der zu früh starb. Unter Hersch Segals Schülern fand sich auch Paul Antschel, den Segal früh für Rilke interessierte, und den er, als den inzwischen berühmt gewordenen Paul Celan in Paris 1962 und in Israel 1969 wiedersah. Durch meinen Onkel lernte ich auch - zwar nur flüchtig, denn ich war damals nur 15 Jahre alt - im Jahre 1944 oder 1945 Paul Celan kennen. Mein Vater, Dr. Pinkas Mayer, Psychiater, war nach unserer Befreiung aus einem rumänischen Konzentrationslager in der Ukraine (nur einige Kilometer entfernt vom Orte wo Antschels Eltern umgebracht wurden) medizinischer Leiter der Czernowitzer Irrenanstalt geworden, und im Jahre 1944 brachte er einige der von der Zwangsarbeit zurückgekehrten früheren Medizinstudenten als Krankenpfleger ("Ärztehelfer") in der Anstalt unter, um sie so vor einer Mobilisation in den letzten Kriegsminister (und vielleicht vom Tode, oder, was vielleicht noch schlimmer gewesen wäre, dem sibirischen Gulag, zu schützen -- denn ich habe es ja schon erwähnt, dass Czernowitz schon damals wieder unter sowjetischer Herrschaft war). Nähere Einzelheiten über diese Periode in Celans Leben findet der Leser in Chalfens Celan-Biographie1. Nach seiner Emeritierung in Israel (1973) widmete sich Segal ganz der Literatur und Kunst. Er half den neu aus der Sowjetunion zugewanderten jiddischen Dichtern und Künstler, hielt Vorträge (oft über Celan — die Texte dieses Artikels); aber vielleicht seine wichtigsten Beiträge aus dieser Zeit waren die Herausgabe der "Blütenlese" 2 und der Sammlung "Kinder erzählen über Transnistrien" (siehe Literaturverzeichnis). Bevor wir zu Segals Celan-Vorträgen übergehen, hier nur kurz über die ¨Blütenlese¨. Selma Meerbaum-Eisinger, die Verfasserin der "Blütenlese", ist vor 1940/41 Schülerin meines Onkels in der jiddischen Schule in Czernowitz gewesen. Sie wurde nach Transnistrien deportiert und starb 1942 in einem deutschen Arbeitslager in Michailowka, Ukraine (ausführlicheres siehe Im Büchlein). Sie schrieb im Alter von 15-17 Jahren ein Heftchen Gedichte — die "Blütenlese" — das den Holocaust überlebte und von Freundinnen nach Israel gebracht wurde. Mein Onkel gab das Heft im Selbstverlag und auf eigene Kosten 1976 in Rehovot heraus und es wurde später von der Tel Aviv University und auch unter dem Titel "Ich bin in Sehnsucht eingehüllt" von Hoffmann und Campe in Hamburg, wieder gedruckt, und erregte in Deutschland einiges Aufsehen. Das andere Werk (¨Kinder erzählen...¨), das leider erst nach Hersch Segals Tod erschien (der erste Teil noch ganz von ihm redigiert, der zweite von seinem Bruder Gerschon Segal und anderen Freunden im Januar 1984 herausgegeben) besteht aus einer Sammlung von bearbeiteten Fragebogen, Dokumenten, und Abschriften von Aussagen die er kurz nach dem Kriege (1946 – 48) von Waisenkindern sammelte, die den Holocaust in Transnistrien überlebten. 1) Israel Chalfen, Paul Celan, Eine Biographie seiner Jugend. Insel Verlag Frankfurt, 1979. 2 ) Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942), Blütenlese. Erst im Selbstverlag von H. Segal, dann Herausgegeben von . A. Rauchwerger, Tel Aviv University Press, Ramat Aviv, 1979. In Deutschland abgedruckt als: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Herausgegeben und eingeleitet von Jürgen Serke, Hoffmann und Campe, Hamburg, 1980 (s. auch J. Serke's Bildreportage im „Stern" ,1978 ). (Ich hatte noch 1984 die Absicht etwas über Segals --- und meine eigenen --- Ideen über die jiddischen Elemente in Celan´s „Gespräch im Gebirg“ niederzuschreiben; leider sind die Skizzen dieser Niederschrift verschwunden. Aber wenn man Jiddisch spricht und hört, bekommt man leicht den Eindruck dass die zwei Juden untereinander Jiddisch oder „Czernowitzer Deutsch“ sprechen. Czernowitzer Deutsch hat eine besondere Syntax, die vom Jiddischen (oder der slawischen Umgebung) sehr beeinflusst ist, z. B. „Ich bin gegangen hin“ (anstatt „Ich bin hingegangen“). (Meinhard E. Mayer) Es folgen die Übersetzungen von Segals Texten soweit ich diese Entziffern konnte. Da es sich um Notizen für Vorträge handelt waren Wiederholungen unvermeidlich. I. - CELAN ALS JUDE 1. "Aschrej – Requiem" Mit Zittern und Gram, ja mit Unruhe trete, ich heute zum zweiten Male vor Euch, um über die Poesie und den Dichter Paul Celan zu sprechen. Obwohl es keine "Askarah" (Jahrestag des Todes) ist, hätte ich es gerne, wenn etwas aus der Melodie des "El maley rachamim"3, des "Yiskor"4 sich in meine Worte einschleichen sollte. Keine "Askarah" nur einige Worte über die Dichtung und den Dichter — den Czernowitzer Dichter — Paul Celan will ich hier sagen. Czernowitz — vor 120 Jahren, in der Mitte des vorigen Jahrhundert, hat das Jüdische Czernowitz Bücher herausgegeben, unter anderen das "unleserlich", das Hebräische Wörterbuch von Elijahu - Levita5 , der große Renaissance-Mann welcher vor 500 Jahren die Grundsteine unserer jiddischen Sprache gelegt hat. Czernowitz - mit der jiddischen Sprachkonferenz von 1908; Czernowitz —das große jüdische Zentrum zwischen den zwei Weltkriegen — die Wahlheimat von Steinbarg6 und Manger7. Aber weil man mich an "Askarah" erinnert hat, und man bei Toten Psalmen sagt, und viele Psalmen mit "Aschrej" anfangen, und weil Celan in seinem letzten Gedichtband "Fadensonnen8" ein Gedicht hat wo das Wort — die Metapher — "Aschrej" vorkommt:^ Wenn ich nicht weiß, nicht weiß ohne dich, ohne dich, ohne Du, .... Aschrej, ein Wort ohne uploads/Litterature/ israel-rehovot-das-juedische-und-das-jiddische-bei-paul-celan.pdf

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