Tasso Borbe Kritik der marxistischen Sprachtheorie N.Ja. Marius Scriptor Verlag
Tasso Borbe Kritik der marxistischen Sprachtheorie N.Ja. Marius Scriptor Verlag GmbH Kronberg Ts. 1974 Inhaltsverzeichnis Vorwort 4 Xasso Borbe Einleitung: Zur Kritik an der Lehre Marr's 5 Bibliographie 17 Vladimir P. Nazarov Der gegenwärtige Stand der Erforschung der kaukasischen Sprachen 21 Bibliographie 43 Sikolaj Ja. Marr Vorwort zur Übersetzung 65 Die japhetitische Theorie. Allgemeiner Kurs der Lehre von der Sprache 67 Anmerkungen 256 VORWORT Nikolaj Jakovlevic MARR (1864-1934) war ein hervorragender Spezialist für die Sprachen des Kaukasus, zugleich war er Sprachtheoretiker und Begründer der marxistischen Sprachwissenschaft. 1950 wurden seine Werke konfisziert, seine treuen Schüler wurden zum Schweigen verur- teilt. Seit einigen Jahren beginnt man wieder zunehmend, sich mit den Marristen zu beschäftigen, in der UdSSR, vereinzelt auch in Westeuro- pa. Den Grund dafür drückte der französische Philosoph Etienne Balibar treffend so aus: "Die linguistische Literatur jener Periode kann nicht völlig verworfen werden. In ihrem Bestreben "sozial" zu sein, haben die Sprachwissenschaftler der Schule von MARR (die ihrem Lehrer nicht immer in allem folgten) Beiträge geliefert, die, mit der notwendigen Kritik versehen, heute noch brauchbar sind." Der vorliegende Band macht dem deutschsprachigen Leser erstmals eine der wichtigsten Arbeiten von Marr zugänglich: seine programmatische Vorlesung an der Universität Baku aus dem Jahre 1927. In der Einlei- tung versucht der Herausgeber, quasi in Stichworten auf Marrs wichtig- ste Ideen hinweisend, eine Anregung zur selbständigen kritischen Aus- einandersetzung mit Marr zu geben. Zu diesem Zweck wurde der Einlei- tung eine ausgewählte Bibliographie angehängt. Die Bedeutung Marrs für die Erforschung der kaukasischen Sprachen und deren gegenwärtigen Stand beschreibt der Aufsatz (mit Bibliographie) von V. P. NAZAROV. Ich möchte an dieser Stelle Herrn Professor Nazarov (The Hebrew Uni- versity of Jerusalem) herzlich für die Bereitstellung des Original- manuskripts danken. Nützliche Hinweise erhielt ich von den Herren Professoren Adam Schaff und Wolfgang Dressler. An den Ubersetzungen aus dem Russischen haben meine Kollegen Dr. Rudolf Preinerstorfer (Marr) und Dr. Gero Fischer (Nazarov) einen großen Anteil. Ihnen allen möchte ich herzlich danken. Wien, 1974 Tasso Borbe 5 Tasso Borbe EINLEITUNG: ZUR KRITIK AN DER LEHRE MARR's I. Die Lehren N. Ja. Marrs in all ihren Einzelheiten und in all ihren Entwicklungsetappen kritisch zu durchleuchten, würde den hier gegebe- nen Rahmen bei weitem sprengen. Zunächst hatte sich Marr dem Studium des Georgischen gewidmet und hatte, überzeugt vom Gedanken an die Ur- einheit jeglicher Kultur, versucht, die Verwandtschaft des Georgischen mit den semitischen und hamitischen Sprachgruppen nachzuweisen. 1908 entdeckte er indes die Zusammenhänge zwischen den Sprachen des Kauka- sus und er wandte auf die "kaukasische Sprachfamilie" die Substrat- theorie Ascolis an: das Kaukasische sei die Ursprache Europas, sei also älter als die semitisch-hamitische und die indogermanische Gruppe In Anlehnung an den Namen des Japhet, Bruders von Sem und Ham und ei- ner der biblischen Stammväter der nachsintflutlichen Menschheit, nann- te er zunächst den "uralten" Sprachstamm, dann auch seine Theorie "japhetitisch". Obwohl er in seine Untersuchungen bald über den klein- asiatischen Raum hinaus auch Sprachen Indiens und Chinas miteinbezog und andererseits zunehmend mit der Frage nach der Entstehung und Ent- wicklung der Sprache Uberhaupt beschäftigt war, blieb der Terminus "japhetitisch" Kennzeichnung seiner Theorie. Der mitunter auftauchende Begriff "Neue Lehre von der Sprache", besonders von Marrs Schülern ge- braucht, scheint angebrachter, da es sich bei seiner Theorie längst nicht mehr nur um eine Theorie der japhetitischen Sprachen handelte, sie war gleichzeitig eine allgemeine Sprachtheorie. Ab 1920 versuchte Marr, seine Sprachtheorie mit dem dialektischen und dem historischen Materialismus in Einklang zu bringen. Unter Vorbehalt - wie wir sehen werden - kann er auch der Begründer der marxistischen Sprachwissenschaft genannt werden. Versuchen wir, die Beziehungen Marrs zu früheren und zeitgenössischen Linguisten zu überblicken, so stellen wir ohne Erstaunen fest, daß zur linguistischen Tradition Rußlands keine Beziehung vorhanden ist: man hatte sich dort nicht mit den "sozialen Aspekten" dieser Wissenschaft beschäftigt. Marr selbst spricht über gewisse Verbindungen zu anderen linguistischen Schulen, so bezeichnet er etwa A. Meillet als "Vor- kämpfer eines soziologischen Standpunktes in den Fragen der mensch- 6 liehen Sprache" und meint, daß H. Schuchardt die Verwandtschaft von Erscheinungen in Sprachen verschiedener Systeme richtig gesehen hätte, doch bestünde die Übereinstimmung mit ihm nur in Worten und abstrakten Gedanken, keineswegs dem Wesen nach, ähnliches, betreffend die Frage nach dem Ursprung der Sprache, bemerkt er über E. Cassirer. Er sieht sich "natürlicherweise" in gnoseologischen Fragen jenen Linguisten näher, "die in ihrer Weltanschauung an den Marxismus grenzen, in erster X Linie Ludwig Noir| und seinen Vorgängern, und in den Fragen der Wech- selbeziehungen der Sprachen der Welt notwendigerweise mehr als nahe jenen Gelehrten, die forschend an die lebende Sprache in ihrer unend- lich übergreifenden Mannigfaltigkeit herangetreten sind, nämlich den Amerikanisten und Afrikanisten Boas, Rivet, Meinhof, W. Schmidt u.a., ..." (Marr 1933f, Bd.2, S.3). 2. Ein zentrales Anliegen Marrs ist es, die dialektische Verknüpfung von Sprache und sozioökonomischen Formationen zu erforschen. Das ge- deutet für ihn das Bestreben, die Zusammenhänge zwischen dem Zustand der Produktivkräfte der Gesellschaft und dem Denken und Sprechen zu erhellen. Die Sprache, so lesen wir, wäre geschaffen worden im Laufe vieler Jahrtausende durch den Masseninstinkt des Gesellschaftswesens, sie hätte sich spezifisch entfaltet unter jeweiligen Bedingungen der wirtschaftlichen Bedürfnisse und der ökonomischen Organisation (vgl. ebd. Bd.l, S.218). Jedes Produktionskollektiv hätte sich mit seinen Erzeugnissen auch die Benennungen der Gegenstände und die Benennungen der technischen Verfahren ihrer Fertigung geschaffen, je nach Bedarf wären diese eingegangen in den Wortschatz aller oder einzelner Grup- pen, manchmal auch nur in den speziellen Wortschatz des schaffenden Produktionskollektivs. Geht es hier bereits um Wortsemantik, so blei- ben frühere Epochen noch auf der Ebene der Morphologie (richtiger wäre: Phonologie). Beim ersten Produktionskollektiv, das noch keinen Unter- schied zwischen Produktion und Führung, Wirtschaft und Magie gekannt hätte, hätte die Entwicklung des Arbeitsprozesses zur Differenzierung und Formgebung der Laute geführt, und allmählich wären aus den Ele- menten der Lautsprache des Arbeitsprozesses die Elemente der Laut- sprache größerer sozialer Gruppierungen geworden, die sich in der Fol- ge zu stammesmäßigen Gruppen zusammenschließen hätten können. Noch weiter zurückgehend gelangen wir zu jenem Stadium, da der Mensch 7 noch ohne die Lautsprache zurechtkam: er verfügte über die kinetische "Umgangs"-Sprache der Gestik und Mimik. Entsprechend dem wichtigsten Arbeitsgerät, der Hand, spielte diese auch die wesentliche Rolle bei der kommunikativen Verständigung. Die Hand konnte von dem Zeitpunkt an eine so wichtige Rolle übernehmen, da der Mensch die Gewohnheiten des kletternden Tieres ablegte. Diesem Prozeß, der, wie wir heute sicher annehmen können, Jahrmillionen dauerte, ging einher der Prozeß der Zurückbildung des Kiefers und der Reißzähne. Dies sind bedeutsame Fak- toren, da die Hand auf diese Weise zunächst die Rolle der Reißzähne übernehmen mußte, also Arbeitsgerät wurde und sich für den Gebrauch von Werkzeug üben konnte. Die Zurückbildung des Kiefers aber war eine wichtige Voraussetzung zur Ausbildung des Artikulationsapparates für die differenzierten menschlichen Laute. Marr zitiert zu diesen Fragen zeitgenössische Archäologen (wir würden sagen: Anthropologen). Wir kön- nen ihnen durchaus Forscher unserer Zeit zur Seite stellen, welche erst- genannte bestätigen können und weitere Erkenntnisse zur Bestätigung der Hypothesen Marrs parat haben. So beschreibt etwa Lieberman (1972), daß der Neandertaler nicht die anatomischen Grundvoraussetzungen für die menschliche Artikulation besaß. Andererseits müssen wir aus dem für den Neandertaler nachgewiesenen Gebrauch von Werkzeugen, die bereits einen hohen Grad von Dingkonstanz, Dingdistanzierung und Versachlichung der Leistung bezeugen, und aus Funden, die bezeugen, daß sein Weltbild über das unmittelbar Erfaßbare hinausreichte, so zeugen Totenbestattung und Grabbeigaben von Gedanken über den Tod, kennen wir den Bärenkult als ma- gische Beschwörung von Naturkräften usw., schließen, daß eine Sprache, eben eine Gestensprache vorhanden war (vgl. auch Soritsch 1974). Wenn die Laute beim Prozeß des gestischen, beziehungsweise händischen Sprechens, von eventuellen affektiven Ausrufen abgesehen, keine Rolle spielten - warum, so muß man dann fragen, entstanden überhaupt artiku- lierte Laute? Marr meint, die Erfordernisse der "umgangssprachlichen" Kommunikation seien durch die Handsprache abgedeckt. Und er vermutet weiter, daß die Lautsprache auf dieselbe Weise wie die Künste Tanz, Ge- sang und "instrumentelle" Musik (freilich nicht in unserem Verständnis der Begriffe) entstanden sei, nämlich im Zusammenhang mit magischen Handlungen, die diesen oder jenen kollektiven Arbeitsprozeß begleitet hätten und für den Erfolg der Produktion notwendig gewesen wären. Mit 8 dem Mund hervorgebrachte willkürliche Laute hätten die tätigen Hände unterstützt und damit die Bedeutung der ganzen Handlung unterstrichen. Lexikalisch zunächst bedeutungslos, hätten bestimmte Laute im Zusam- menhang mit bestimmten Handlungen eine fixierte Bedeutung angenommen, die schließlich ohne die unmittelbare Gegenwart von Handlung oder Ding das Jeweilige repräsentieren konnten. Auch hierzu kann man auf eine große Zahl neuester Forschungsergebnisse verweisen (vgl. etwa Campbell 1973, Ploog 1972). Marr meint, daß sich zusammen mit den Künsten in der Evolution des Ar- beitsprozesses vier Elemente herauskristallisiert hätten, aus denen und deren Kreuzungen letztlich alle Wörter aller Sprachen dieser Welt hervorgegangen seien. Während zur Zeit der kinetischen Sprache diese Elemente nur eine magische Kraft, keine konkrete Bezeichnungsfunktion für eine bestimmte Vorstellung, eine Gestalt oder einen Begriff gehabt hätten, hätte sich ihr Schicksal vom Moment ihrer Verwendung als Laut- signalisierungen einer gesellschaftlichen Vorstellung an jenseits der Grenzen magischer Organisation immer stärker mit der Gesellschaft und deren Voraussetzung, der Wirtschaft verbunden. Mit der Verschiedenheit der territorialen Bedingungen, des Wirtschaftstyps und der Entwick- lungsstufe der Gesellschaft uploads/Litterature/ tasso-borbe-marr.pdf
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- Publié le Aoû 05, 2022
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