Auf den Spuren einer verschütteten Evidenz: Übersetzung und Hermeneutik (Einlei
Auf den Spuren einer verschütteten Evidenz: Übersetzung und Hermeneutik (Einleitung) Für den gegenwärtigen Übersetzungswissenschaftler hat die Ver- knüpfung von Über set zung und Hermeneutik oft den Charakter einer sehr engen Spezialisierung oder eines beinahe exotischen Unterneh- mens. Die Verbindung dieser zwei Begrife scheint das Ergebnis eines isolierten und relativ neuen wissenschaftlichen Vorgehens zu sein, das sich vornimmt, ein fundamental sprachliches Phänomen mit einer be- deutenden Schule des modernen Denkens zusammenzubringen. In der gegenwärtigen Überset zungs wissenschaft wird das hermeneutische Feld als eine relativ junge For schungs richtung wahrgenommen, die von Fritz Paepcke und Philippe Forget in den 70er Jahren des 20. Jahr hun derts in Anlehnung an die Herme neu tik Martin Hei deg gers und Hans-Georg Gada mers begründet worden ist. Auch heutzutage ist der her me neu ti- sche Über setzungsansatz im Bewusstsein mancher Übersetzungsforscher nur als eine Or chi deen-Forschungsrichtung präsent. Eine tiefer gehende Refexion und eine elementare Rückbesinnung auf die Etymologie als Ausdruck einer verschütteten Wahrheit, die zu den Anfängen der Über setzungspraxis noch frei lag, lassen nämlich ein ganz anderes Bild entstehen: Über set zen ist in einem fundamentalen Sinne hermeneutisch. Der hermeneutische Über set zungs ansatz ist somit keines- wegs ein künstliches Konstrukt des modernen Den kens, son dern gewis- sermaßen die tautologische Bezeichnung eines Versuchs, die eminent her- meneutische Übersetzungspraxis auf theoretischer Ebene zu refektieren. Die Etymologie liefert einen ersten Hinweis darauf, dass die Ver- bindung von Übersetzung und Her me neu tik, kantisch ge spro chen, eher analytisch als synthetisch ist: Sie festigt terminologisch die Tese von LARISA CERCEL 8 der Gleich ur sprüng lichkeit und Untrenn bar keit von Übersetzen und Hermeneutik. Übersetzen heißt im Altgriechischen her meneuein, das zu- gleich den Ausle gungsakt bzw. den spe zia lisierten Interpre ta tions vorgang bezeichnet. Im von Joachim Ritter edierten Histo ri schen Wörterbuch der Phi lo sophie defniert Hans-Georg Gadamer den Begrif der Hermeneutik folgen der maßen: Herme neu tik ist die Kunst des ˜rmhneÚein, d.h. des Ver kün dens, Dolmet schens, Erklä rens und Ausle gens. ‚Hermes’ hieß der Götterbote, der die Bot schaften der Götter den Sterb lichen aus rich tet. Sein Verkünden ist ofenkundig kein bloßes Mit teilen, son dern Erklären von göttlichen Befehlen, und zwar so, dass er diese in sterbliche Spra che und Ver ständ lichkeit übersetzt [...]. Das gilt auch von der Grund be deu- tung von ˜rmhne…a, die ‚Aus sage von Ge dan ken’ ist, wobei der Begrif der Aus sa ge selber vieldeutig ist, Äuße rung, Erklärung, Auslegung und Über setzung um fas send. (Gadamer 1974: 1061f.) Die Wortgeschichte des griechischen herme neuein um fasst folglich drei Grund be deu tungen: aussagen, auslegen und übersetzen (dol met - schen). In allen drei Be deu tun g s richtungen lässt sich ein gemeinsamer Nenner in der Ka tegorie einer sprach lichen Kund ge bung mit dem Ziel der Verständ lich ma chung von Sinn oder Sinn ver mitt lung fassen. Ob- wohl die ety mo logische Ableitung des Her me neu tik-Begrifs von dem griechischen Götterboten Hermes, der als Über setzer zwi schen Göttern und Men schen vermittelt und die gött li che Sprache in eine ver ständ li- che Aus drucksweise überträgt, sprach ge schichtlich um stritten ist, weist sie jedoch auf einen sachlichen Zusam menhang hin. Der wortgeschichtliche Hin weis auf die begrifiche Nähe von Über- set zung und Hermeneutik wird aus geis tes geschichtlicher Perspektive durchaus bestätigt. Zu den frühen trag fähigen theore ti schen Überlegun- gen über das Über set zen gehören die Aus füh run gen von zwei bedeuten- den Grün dungs vätern des herme neu ti schen Den kens: Martin Luther und Friedrich Schleier macher. Luther ist der erste namhafte deutsche Übersetzer, der sich zu gleich auch theo retisch über sein Werk äußerte. Obwohl er keine in sich ge- schlos sene herme neu tische Teo rie des Verstehens und Interpretierens vorgelegt hat, basiert auf seinen Schrif ten die ganze Tradition der pro- AUF DEN SPUREN EINER VERSCHÜTTETEN EVIDENZ 9 testantischen Hermeneutik von Melanch ton, Flacius, Dann hauer bis hin zu Schleiermacher, Dilthey, Bultmann und Gadamer. Luther hat sich be- kanntlich auch mit dem Problem des Übersetzens intensiv befasst: Die Bibel-Über setzung war für ihn eine zentrale theologische Aufgabe, die von sei nem theo lo gi schen Beitrag nicht zu trennen war. Ihm wird einer der ersten sig ni f kan ten theo re ti schen Aufsätze zum Problem des Über set zens („Send brief vom Dolmet schen“, 1530) ver dankt, in dem die Verbindung von Übersetzung und Hermeneutik deut lich zum Aus druck kommt. Die Bedeutung Schleiermachers für die moderne Hermeneutik ist wiederum schon längst aufgearbeitet worden. Obgleich der Gedanke der Notwendigkeit einer all ge meinen Hermeneutik schon bei einigen seiner Vor gän ger präsent ist, wird in der Regel Schleier macher die Begründung einer allgemeinen und somit wis sen schaft li chen Her me neutik zuge- schrie ben, die das Konzept der herkömmlichen her me neu tischen Leh ren als Sammlung von Regeln zur rich tigen Auslegung einzelner Text stellen über wun den habe. Interessant ist es festzustellen, dass Schleiermacher auch in der Über- set zungs for schung eine urheberische Position genießt, indem ihm die symbolische Begrün dung des Fa ches Überset zungs wissen schaft zuge- schrieben wird. Er wird in der Geschichte der theo re ti schen Refexionen über den Gegenstand des Über setzens als derjenige geehrt, von dem die erste Forderung nach einer Über set zungs wissen schaft als eigenständiger Wissen schafts dis zi plin ausging: „Ueberall sind Teorien bei uns an der Tagesordnung, aber noch ist keine von festen Ursätzen ausgehende, fol- gegleich und vollständig durchgeführte Teorie der Ueber set zun gen er- schienen; nur Fragmente hat man aufgestellt: und doch, so gewiß es eine Alter thums wissenschaft gibt, so ge wiß muß es auch eine Uebersetzungs- wissenschaft geben.“1 Dar über hinaus spräche Schleier macher Probleme an, die zum Teil auch in den gegenwärtigen fachwissen schaftlichen Dis- kussionen präsent sind (Koller 1992: 39). Sein Aufsatz „Über die ver- schie de nen Me thoden des Übersetzens“ wird oft als ein Meilenstein in 1 Im Beitrag „Alte Literatur. Ueber die Farbengebung des Alterthümlichen in Ver- deutschung alter klassischer Prosa (Veranlasst durch Lange’s Uebersetzung des Herodot. Berlin 1812 bis 1813)“, ver öfent licht in der Zeitschrift Die Musen (her- ausgegeben von Friedrich Fouqué und Wilhelm Raumann, 1814, S. 104) unter dem Pseudonym Pudor. LARISA CERCEL 10 der Ent wicklung der Über set zungs wis senschaft (Hermans 2004: 192) im Sinne einer Voran kün digung von Mo men ten, die erst in der modernen Übersetzungstheorie ausgear bei tet wurden, inter pretiert. Der Aufsatz „Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens“ ist der Ort, wo das übersetzungshermeneu tische Denken seinen ersten bedeut sa men theoretischen Kristallisationspunkt erfährt. In diesem Text fnden sich „wie in einer Nussschale“ (Birus 1982: 27) die Kerngedanken einer herme neu ti schen Kon zeption vom Über set zen: die Zentralität des Verstehens im Übersetzungsakt, die Subjekt bezogen heit des Über setzens, die Geschichtlichkeit und die Prozessualität des Verstehens und Über set- zens, die Notwen dig keit der soliden wissenschaftlichen Untermauerung der überset ze ri schen Ent schei dungen usw. Alle späteren her meneutischen Übersetzungs theo rien bewegen sich – meistens jedoch ohne bewuss ten Rückgrif – in dem von Schleier macher ent worfenen Refexions rah men, ja es gibt Stimmen, die den Beitrag Schleier ma chers zur allgemeinen Übersetzungswissenschaft als radikal ansehen: „Prac tically every modern translation theory – at least in the German-lan guage area – responds, in one way or another, to Schleier ma cher’s hy po thesis. Tere appear to have been no fundamentally new approaches.“ (Kittel / Polter mann 1998: 424). Wenn Schleier ma cher einerseits als (symbolischer) Begründer der Über setzungs wis sen schaft gefeiert wird und seine Übersetzungstheorie den ideatischen Nährboden der moder nen Über set zungs forschung dar- stellt und andererseits seine Über set zungs theo rie sich als zu tiefst herme- neutisch erweist, dann liegt es nahe, dass er die Aufgabe der Überset- zungs wis senschaft als eine grundsätzlich hermeneutische aufasst. An diese privile gierte Relation zwischen Übersetzung und Herme- neutik, die bei Luther und Schleier macher derart deutlich zum Ausdruck kommt, gilt es demnach, in der gegen wär tigen Über set zungs wissenschaft zu erinnern und den Stellenwert der her me neu ti schen For schungs- richtung in der modernen Übersetzungswissenschaft neu zu denken. Für die unerlässliche Verknüpfung von Übersetzen und Hermeneu- tik kann auch ein drittes Argument ins Spiel gebracht werden. Promi- nente Vertreter der mo der nen Herme neutik (Martin Heideg ger, Hans- Georg Gadamer, Paul Ricœur) haben die Übersetzung als fundamenta- les Phä nomen aufgefasst und diesem Topos eine be vorzugte Stellung in ihrem Denken zugewiesen. Ihre Refexionen thematisieren zwar etwas AUF DEN SPUREN EINER VERSCHÜTTETEN EVIDENZ 11 weniger die technischen Aspekte des konkreten Über setzungsaktes, hin- gegen eröfnen sie durch die Ontologisierung des Sprach- und Über - set zungsbegrifs eine durch aus bedeutende Betrachtungsperspektive: Sprache und Über setzung werden als zur Seinsstruktur des Men schen gehörend angesehen. Die Welt, in der wir leben, uploads/Litterature/ uebersetzung-und-hermeneutik.pdf
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- Publié le Nov 02, 2021
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