ETH Zürich, Departement Architektur, Professur Andrea Deplazes Text 1 Das Patho
ETH Zürich, Departement Architektur, Professur Andrea Deplazes Text 1 Das Pathos des Mauerwerks Ákos Moravánszky in: Architektur konstruieren, Vom Rohmaterial zum Bauwerk - ein Handbuch, Dezember 2003 GRUNDKURS ARCHITEKTUR Texte zur Vorlesung Entwurf + Konstruktion I/II Mauerbau _____________________________________________________________________________________ Prof. Andrea Deplazes BAUSTOFFE – MODULE Mauerwerk 23 Einführung Das Pathos des Mauerwerks Schichtungen Pathos hat Konjunktur – trotz des Verdachts, hohl zu sein –, was jedes Pathetische wie seinen Schatten be- gleitet. Region, Identität, Raum – Begriffe, die früher ein- mal mit Augenmass verwendet wurden, bekommen eine übergrosse Wucht; wohl um in einer eher spannungslosen Situation zu Orientierungspunkten zu werden oder einfach Aufsehen zu erregen. Und was ist pathetischer in der Ar- chitektur als das Mauerwerk? Wenn es um ein Mauerwerk geht, denken wir immer an einen Charakter mit Eigen- schaften, die das Mauerwerk an einen Ort binden, wie Material, Farbe, Schwere oder Permanenz. Wand, Mauer oder Mauerwerk sind Unterscheidungen, die in anderen Sprachen kaum existieren. Es ist vor allem das Werk im Mauerwerk, das für die ethische und ästhetische Reso- nanzfülle sorgt und vieles legitimiert. Eine Mauer mit einer Putzschicht, sei sie noch so perfekt gemauert und ver- putzt, muss noch lange kein Mauerwerk sein. Unter Mau- erwerk verstehen wir nur ein «in seiner Oberfläche sicht- bar bleibendes und durch sie wirkendes Gefüge»1, egal ob es aus Naturstein, Backstein oder aus anderen Mauer- steinen zusammengefügt wurde. Die Verzahnung von Natur und Menschenwerk im Bild des ruinösen Mauerwerks, wie es in der Spätrenaissance- Kunstgattung Capriccio dargestellt wurde, sollte die Ver- geblichkeit der Anstrengungen des Bauens und die Ero- sionskräfte des Todes vor Augen führen. Die Natur wartet am Ende der Geschichte, um sich für ihre Vergewaltigung zu rächen, «als sei die künstlerische Formung nur eine Gewalttat des Geistes gewesen»2. Der Zusammenhang Mauerwerk – Natur kann jedoch auch aus einer weniger melancholischen Sicht betrachtet werden. Rudolf Schwarz, in seinem 1949 veröffentlichten Buch «Von der Bebauung der Erde», beschrieb die stoffliche Struktur der Erde als Mauerwerk, das vom Flöz «aus den hauchdünnen Membranen des Weltstoffs», aus Niederschlägen der Luft und des Wassers Schicht um Schicht gebaut wird.3 Das Mauerwerk in sich soll einem unvoreingenomme- nen Betrachter im Vergleich zu den komplexen Gebilden der High-Tech-Industrie als ein banales Produkt erschei- nen. Das Pathos spüren wir jedoch deutlich, wenn es zum Beispiel zum Sinnbild des Erdbaus, der Schöpfung – oder der Heimeligkeit gegen Modernisierung wird. Die back- steingemusterte Tapete im Partykeller zeigt die sentimen- tale Bedeutung, die vom Mauerwerk erwartet wird. Es gibt mindestens zwei Diskurse zu Mauerwerk: Der eine wird über seine Oberfläche als Bedeutungsträger und Raumgrenze, der andere über seine Masse als Produkt handwerklicher Arbeit geführt. Obwohl ständige Inter- ferenzen zwischen diesen Diskursen bestehen, werde ich in diesem Beitrag beide Aspekte zunächst getrennt be- trachten. Vom Leichten: Die Wand, die Kunst Keine theoretische Untersuchung hat mehr neue Ge- danken zur doppelten Identität des Mauerwerks formuliert (und weitere inspiriert), als Gottfried Sempers zwei Bände «Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik». Die Grundlage von Sempers System ist eine Typologie menschlicher Produktions- formen: Textilweben, Töpferei, Tektonik (Holzkonstruktion) und Stereotomie (Steinkonstruktion). Diesen vier Typen der Herstellung entsprechen die vier Urelemente der Ar- chitektur: Wand, Herd, Dach und Substruktur (Erdauf- schüttung, Terrasse). Wichtig ist die ontologische Dimen- sion dieser Aufteilung: Diese vier Elemente sind nicht for- mell definiert, sie sind vielmehr Aspekte der menschlichen Existenz.Bemerkenswert ist die Flexibilität,die die schein- bar starre Aufteilung der architektonischen Techniken in Bezug auf die Bestimmung ihrer Bestandteile erlaubt. Selbst eine skizzenhafte Darstellung würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen; wichtig ist hier die Feststellung, dass Mauerwerke Produkte der zwei «Urtechniken» Textil- weben und Stereotomie sein können.Tektonik, «die Kunst des Zusammenfügens starrer, stabförmig gestalteter Theile»4 (deren Beispiel der Dachstuhl ist), hat mit dem Mauerwerk nichts zu tun. Sempers Beobachtungen waren von Mauerteilen aus Ausgrabungen der assyrischen Hauptstadt Ninive beein- flusst, die er 1849 im Louvre besichtigte. Er sah in diesen Mauerresten die Bestätigung seiner Bekleidungstheorie: Die Wand als Raumbegrenzung ist das primäre Element, die Mauer als lasttragendes Element der Konstruktion ist sekundär. Die flächenbildenden Steine der assyrischen Maurreste wurden horizontal auf dem Boden zusammen- Abb. 1: Die Verzahnung von Natur und Menschenwerk im Bild des ruinösen Mauerwerks Mario Ricci: Capriccio mit antiken Ruinen, Obelisken und Staffage Ákos Moravánszky BAUSTOFFE – MODULE Mauerwerk 24 Einführung gefügt, dann bemalt, emailliert, gebrannt und erst nach- her eingebaut: «Man sieht, der Ziegelbau, obgleich uralt bei den Assyrern, war dennoch nicht konstructiv durchge- bildet. Seine Ornamentik ging nicht aus der Konstruktion hervor, sondern entlehnte sie von anderem Stoffe.», schrieb Semper in seinem Manuskript zu «Vergleichender Baulehre»5. Diese Theorie provoziert – und inspiriert – noch heute in ihrer scheinbaren Umkehrung von Ursache und Ergebnis. Es ist das Erscheinungsbild des Mauer- werks, seine flechtwerkartige Oberfläche, das die Technik bestimmte, und nicht umgekehrt. Für Semper ist der Kno- ten «das älteste technische Symbol und (...) der Ausdruck für die frühesten kosmogonischen Ideen»6, also das Grundmotiv der menschlichen «Techné», indem eine struktive Notwendigkeit (die Verbindung von zwei Elemen- ten) zum ästhetischen, sinnhaften Bild wird. Der orientali- sche Teppich entfaltet seine Wirkung durch die rhythmi- sche Wiederholung von Knoten; die ganze Oberfläche ist einheitlich bearbeitet. Die Kunst ist immer ein Flechtwerk: Ein Maler, ob ein Landschaftskünstler des 19. Jahr- hunderts oder ein «action painter» der fünfziger Jahre wie Jackson Pollock, bearbeitet immer die ganze Oberfläche der Leinwand einheitlich, anstatt farbige Details auf einer weissen Fläche zu verteilen. Durch diese Kalligraphie wird das Mauerwerk erst erlebbar. «Das alles überziehende Maschennetz der Fuge gibt (...) der Fläche nicht nur ganz im allgemeinen Ton und Leben, sondern es prägt der Flä- che auch einen scharf ausgesprochenen Maßstab auf und bringt sie dadurch in unmittelbare ‹Beziehung zum Vorstellungsvermögen des Menschen›», schrieb Fritz Schumacher 1920.7 Sempers Theorie über den textilen Ursprung der Wand ist zwar im Historismus verwurzelt und später von vielen Vertretern der modernen Theorie der Materialwahrheit missverstanden und kritisiert worden, hat jedoch die Ästhetik der Mauerwerke auch im zwanzigsten Jahr- hundert nachhaltig beeinflusst. Diese Tatsache ist natür- lich nicht immer auf einen direkten Einfluss der Semper’- schen Theorie zurückzuführen. In der Wiener Architektur ist jedoch die Rezeption der Gedanken Sempers unüber- sehbar, und Architekten wie Boris Podrecca fühlen sich heute noch dieser Tradition verpflichtet. Es war vor allem der Kreis um Otto Wagner, der die Semper’schen Thesen schon früh innovativ auslegte. Die Fassaden der Steinhof- kirche (1905–07) oder der Postsparkasse (1904–06) in Wien folgen Sempers Unterscheidung der unteren, stere- otomischen, und der oberen, textilen, Felder der Fassade. Wagners slowenischer Schüler, Joˇ ze Pleˇ cnik, hat in seinen Arbeiten in Wien, Prag und Ljubljana diese Themen neu interpretiert. «Neu» heisst hier allerdings, dass er sein Wissen der archaischen Bauformen mit virtuosem Können ins Spiel setzte – Verzerrungen, Verfremdungen, Vorge- fundenes und frei Erfundenes halten sich die Waage. Die Fassade von Pleˇ cniks Herz-Jesu-Kirche in Prag (1932– Abb. 3: Leichte Putzfassade über schwerem Mauerwerk Joˇ ze Pleˇ cnik: Herz-Jesu-Kirche, Prag (CZ) 1939 Abb. 4: Stereotomische und marmorverkleidete Mauerwerke Otto Wagner: Steinhofkirche, Wien (A) 1907 Abb. 2: Die Wand als Raumbegrenzung ist das primäre Element, die Mauer als lasttragendes Element der Konstruktion ist sekundär Ninive, Ausgrabungen der Stadtmauer zwischen 1899 und 1917 Abb. 5: Gewebe von Naturstein und Backstein Joˇ ze Pleˇ cnik: Universitätsbibliothek in Ljubljana (SLO) 1941 BAUSTOFFE – MODULE Mauerwerk 25 Einführung 39) ist sehr klar in eine untere, klinkerverkleidete und eine obere, weiss verputzte Zone gegliedert; aus der dunklen Ziegelverkleidung ragen Granitblöcke heraus. Die Fas- sade der Universitätsbibliothek in Ljubljana (1936–41) ist ebenfalls ein Gewebe von Stein und Ziegel; hier soll die Kombination wohl die zweifache Bindung Sloweniens zu der germanischen bzw. der mediterranen Baukultur ver- sinnbildlichen. Louis Henry Sullivan verglich die Wirkung der Fas- saden, die mit Ziegeln aus grobkörnigem Ton gemauert sind, mit dem weichen Schimmer alter anatolischer Tep- piche: «a texture giving innumerable highlights and sha- dows, and a moss-like appearance»8. Schon der Name zeigt, dass Frank Lloyd Wrights Er- findung, die so genannte «textile-block»-Konstruktion die gewebeartige Wirkung der vorgefertigten Leichtbeton- blöcke sucht. In einem 1932 geschriebenen Text bezeich- nete Wright sich selbst als «Weber» im Gegensatz zu den Bildhauer-Architekten, um die Fassaden seiner kaliforni- schen Bauten wie La Miniatura oder die Storer Residence (1923) zu charakterisieren: «Die Blöcke begannen das Sonnenlicht zu erreichen und zwischen den Euka- lyptusbäumen hochzukriechen. Der ‹Weber‹ träumte von ihrer Wirkung. Es wurden Visionen einer neuen Architektur für ein neues Leben (...). Die Normung war tatsächlich die Seele der Maschine, und hier benutzte der Architekt sie als Prinzip und «strickte» damit. Ja, er häkelte damit ein freies Mauergewebe, das grosser Vielfalt in der architek- tonischen Schönheit fähig war (...) Palladio! Bramante! Sansovino. Bildhauer – sie alle! Hier war ich, der ‹We- ber›».9 Antike und byzantische Mauerwerke oder die sakrale Architektur des Balkans zeigen viele Beispiele, wie die Oberfläche des Mauerwerks zu einem Gewand wird, da statt mit einer struktiven Gliederung mit Pilaster- oder Säulenordnungen, etwa mit in die Mörtelfugen einge- steckten glasierten Keramikstiften oder Steinchen, berei- chert werden kann. Diese Bauten verzichten auf eine mit Öffnungen und bildhauerischem Beiwerk strukturierte Fassade zugunsten der homogenen Wirkung des Mauer- gewebes. Der griechische Architekt Dimitris Pikionis hat uploads/Geographie/ 5c8f5cb7490dfvorlesetext-mauerbau.pdf
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- Publié le Apv 21, 2022
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