1 Claus-Artur Scheier Maximins Lichtung. Philosophische Bemerkungen zu Georges

1 Claus-Artur Scheier Maximins Lichtung. Philosophische Bemerkungen zu Georges Gott. Georges Gott bleibt ein Skandalon, und von seinem Künder, dem Menschen, Lehrer, sogar dem Dichter läßt sich wenigstens sagen, daß sein Charakterbild in der Literaturgeschichte immer noch schwanke. "Sein Lager nur erkläret sein Verbrechen" und macht den Versuch schwer, George ohne es zu denken. Aber nachdem Gunst und Haß der Parteien im Lauf des zuendegehenden Jahrhunderts einigermaßen schal geworden sind, steht es der Vergegenwärtigung der kaum vergleichbaren Gestalt wohl an, gelassener Ausschau zu halten nach der Gegend jenes geschichtlichen Orts innerhalb der Moderne, in dem einen Gott hervorzubringen möglich, gar notwendig geworden war. 1870 hatte das Vaticanum die Unfehlbarkeit des Papstes erklärt, und die Beurkundung des Neuthomismus, die Enzyklika "Aeterni patris", folgte im Jahr 18791, in dem auch Gottlob Freges "Begriffsschrift, eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens" erschien. Es war nicht die Theologie, sondern die Philosophie des 19. Jahrhunderts, die sich (zusammen mit der französischen Dichtung) à corps perdu ins Unbekannte2 gewagt hatte: War nicht bereits der "Gottmensch incognito" der Kierkegaardschen Pseudonyme ein neuer Gott? Obwohl er wie Nietzsches Dionysos und Ariadne noch einen alten Namen trug? Heideggers "letzter Gott" - "Der ganz Andere 1 Leo XIII. ist das achte Zeitgedicht gewidmet. 2 "Aber was ist denn dies Unbekannte, an dem der Verstand sich in seiner paradoxen Leidenschaft stößt, und das den Menschen sogar bei seiner Selbsterkenntnis irremacht? Es ist das Unbekannte. Jedoch, es ist ja indessen kein Mensch, soweit er den Menschen kennt, oder irgend etwas anderes, was er kennt. So wollen wir denn dieses Unbekannte den Gott nennen. Es ist nur ein Name, den wir ihm geben." Kierkegaard, 'Philosophische Bissen', übs. von Hans Rochol, Hamburg 1989, Kap. III, 'Das absolute Paradox (Eine metaphysische Grille)', Abs. 4. 2 gegen die Gewesenen, zumal gegen den christlichen"3 - würde namenlos bleiben. Georges Gott hieß Maximin. I. Merkwürdig zunächst, daß der Denker des letzten Gottes in den immerhin vier Vorträgen, die er 1957/58 George widmete4, Maximin zu verschweigen scheint. Das Schweigen ist gleichwohl beredt, indem es sich mittelbar rechtfertigt durch die frühere Bestimmung des Rilkeschen Engels5 - was für diesen, gilt mutatis mutandis auch für Georges Gott (wie schon für den Engel des 'Vorspiels') -, sodann durch die eingewobene Auseinandersetzung mit Benn, endlich durch die Auslegung des Gedichts 'Das Wort' selbst, dessen Schlußverse So lernt ich traurig den verzicht: Kein ding sei wo das wort gebricht. der Weg der Vorträge immer wieder durchquert. Maximin, kommt dabei zum Vorschein, war ein "metaphysischer" Gott. Es ist nur vorsichtig, die "Metaphysik" als Gegenstand der Heideggerschen "Destruktion"6 und die Metaphysik als Verfassung des europäischen Denkens bis zum deutschen Idealismus einschließlich (nicht als akademische Disziplin) auseinanderzuhalten. Das Licht, das aus der geschichtlichen Metaphysik in die Heideggersche Besinnung fällt, ist nämlich allemal gebrochen durch das Prisma der Husserlschen Phänomenologie, die sich zwar selber über Descartes an die Metaphysik zurückbindet, aber unbeschadet gewisser cartesianischer Denkfiguren auf dem Boden eines andern geschichtlichen Prinzips steht. Es ist, kurz gesagt, die mit der metaphysischen Lehre vom Grund inkompatible Gewißheit der unhintergehbaren Zweiheit, die ihre prägnante Formulierung im Brentano-Husserlschen Begriff der Intentionalität fand. So systematisch die Metaphysik im ganzen war, so diastematisch (sit venia verbo) ist das intentionale Denken schon seit Schopenhauer und Feuerbach gewesen, wo immer es sich auf sein Eigenstes besann, wie in der Irreduzibilität der 3 Martin Heidegger, 'Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)', Gesamtausgabe III. Abt., Bd. 65, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1989, 403. 4 Martin Heidegger, 'Das Wesen der Sprache' I-III und 'Das Wort', in: 'Unterwegs zur Sprache' (UzS), Pfullingen 1959, 157-216, 217-238. 5 Martin Heidegger, 'Wozu Dichter?', in: 'Holzwege', Frankfurt a. M. 1950, 248-295, vgl. insb. 288: "Inwiefern innerhalb der Vollendung der neuzeitlichen Metaphysik zum Sein des Seienden die Beziehung auf ein solches Wesen gehört, inwiefern das Wesen des Rilkeschen Engels bei aller inhaltlichen Verschiedenheit metaphysisch das Selbe ist wie die Gestalt von Nietzsches Zarathustra, kann nur aus einer ursprünglicheren Entfaltung des Wesens der Subjektität gezeigt werden." Auf den Rilke-Vortrag wird angespielt UzS 165. 6 Martin Heidegger, 'Sein und Zeit', Halle a. d. 1927, § 6, und ders., 'Zeit und Sein', in: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, 1-25, hier 9. 3 Existenzialien Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit oder der "seinsgeschicklichen" Namen Gestell und Geviert. Das "metaphysische" Denken im Sinne Heideggers ist das "rechnende" Denken, als welches die "Seinsvergessenheit" spätestens seit der Platonischen Verschiebung der Wahrheit auf die Richtigkeit7 zum europäischen Geschick geworden ist: als "Technik" hat sie ihre langhindauernde planetarische Herrschaft angetreten, die 1957 mit dem "Sputnik"-Schock ins zeitgenössische Bewußtsein tritt, "Wunder und Traum der modernen Technik, die am wenigsten bereit sein dürfte, den Gedanken anzuerkennen, das Wort verschaffe den Dingen ihr Sein. Nicht Worte sondern Taten zählen in der Rechnung der planetarischen Rechnerei." (UzS 165) Die Technik selber bleibt gleichwohl sprachlichen Wesens, wenn es denn "wahr ist, daß der Mensch den eigentlichen Aufenthalt seines Daseins in der Sprache hat" (UzS 159), und so auch das Diastema von Wunder und Traum hier, Wort und Ding da, in dem Heidegger die Schranke der Georgeschen Dichtung zu entbergen sucht. So sind Wunder und Traum dem Zugriff der "Metalinguistik" als der "Metaphysik der durchgängigen Technifizierung aller Sprachen zum allein funktionierenden interplanetarischen Informationsinstrument" (UzS 160) überstellt, während Wort wie Ding in jenen Sprach-Bereich gehören, wo "eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt" (UzS 159). "Rein Gesprochenes" aber "ist jenes, worin die Vollendung des Sprechens, die dem Gesprochenen eignet, ihrerseits eine anfangende ist. Rein Gesprochenes ist das Gedicht" (UzS 16) - nicht das "moderne", denn die diesem vom Verfasser des "sonderbaren Vortrag[s] 'Probleme der Lyrik'" abverlangte "'schöpferische Transformation' ist der Sputnik, aber kein Gedicht. Gottfried Benn hat erkannt, auf seine Weise, wohin er selbst gehört" (UzS 207). Nicht also 'Gedichte' Benns, vielleicht aber 'Das Wort'. Dessen vielschichtiger Auslegung unterwegs zum "Wesen der Sprache" sei hier nur soweit gefolgt, wie sie sich auf das Gedicht selber zurücklesen läßt in der Hoffnung, kraft dieses Reflexes etwas von Ort und Herkunft des Georgeschen Gottes zu erinnern und dadurch möglicherweise auch einen Blick zu tun in die eigentümliche Not der "gewaltsamen" Interpretation8, die dem "seinsgeschicklichen" Entbergen innewohnt als das ursprünglichere Verbergen. Zunächst transformiert Heidegger die in der Schule der Norne gelernte Weisheit des letzten Verses in eine "Aussage" als in die logische Basis der "Metaphysik", um daran das geläufige Verständnis der Wörter "Wort" und "Ding" zu demonstrieren. Im Gegenwurf zieht er den befehlenden 7 Martin Heidegger, 'Platons Lehre von der Wahrheit', in: 'Wegmarken', Frankfurt a. M. 1967, 109-144. 8 Vgl. Heidegger, 'Sein und Zeit' (Anm. 6), 311. 4 Charakter des "sei" hervor, denn: "Vermutlich schwingen im dichterischen Sagen dieses 'sei' der eine und der andere Sinn ineinander: ein Geheiß als Anspruch und das Sichfügen in dieses" (UzS 168). Ist die Gnome stichhaltig, "Jeder große Dichter dichtet nur aus einem einzigen Gedicht" (UzS 37), dann würde hier deutlich, wie Georges Werk sich immer reiner jenem Geheiß fügte, unter dem es von Beginn an stand.9 Stattdessen schiebt Heidegger eine bereits der Wortwahl nach bedenkliche Vorgeschichte unter: Worauf George in der Gegend der "späten, einfachen, fast liedhaften" Gedichte (UzS 162) "verzichten lernte, ist die vormals von ihm gehegte Meinung über das Verhältnis von Ding und Wort. Der Verzicht betrifft das bis dahin gepflegte dichterische Verhältnis zum Wort. Der Verzicht ist die Bereitschaft zu einem anderen Verhältnis" (UzS 167 f.). Dies sei für George "der Augenblick, wo das bisherige, seiner selbst sichere Dichten jäh zerbricht und ihn an das Wort Hölderlins denken läßt: /Was bleibet aber, stiften die Dichter./" (UzS 172). Eine gehegte Meinung - ein in ihrem Sinn gepflegtes Verhältnis zum Wort - ein dadurch gesichertes Dichten: George, wie nachmals Benn ein Vertreter der "schöpferischen Transformation" des "rechnenden" Denkens10, wurde nur darum zum Dichter, weil er dank der Begegnung mit Hellingraths Hölderlin (UzS 182 f.) am Ende seines literarischen Wegs der "Literatur" entsagen lernte, "die über die doctrina des Mittelalters zur scientia der Neuzeit wurde".11 Dies interpretatorische Apriori steuert die Auslegung des ganzen Gedichts. Im Licht der "Metaphysik" wird der Dichter in der ersten Triade bezaubert von Wundern und entrückt von Träumen, um in ungetrübter Zuversicht Worte aus der Quelle der Sprache zu schöpfen, die auf alles passen, was sich ihm derart eingebildet hat. Darum huldigt er der Meinung, seine Dinge, nämlich die Wunder und Träume, gehörten zu dem, was der Fall sei, wären demnach nur zu beschreiben und darzustellen. Die Worte sind darum "wie Griffe, die das schon Seiende [...] umgreifen, dicht machen, es ausdrücken und ihm so zur Schönheit verhelfen" (UzS 171). Das Dichtmachen bezeichnet das "metaphysisch" verstandene Dichten als (intentionales) Vorstellen (Vergegenständlichen), das als subjektives Machen dann Ausdrücken ist, "Expression" (UzS 37) durch Begriffe, die das Seiende nicht sein lassen, sondern greifen, sogar (mit einer Spitze gegen Jaspers) umgreifen, um darauf die 9 So kann 'Das Wort' als vertieftes Seitenstück zu 'Der Spiegel' gelesen werden, vgl. Hans-Georg Gadamer, 'Hölderlin und George', in: ders., 'Gedicht und Gespräch. Essays', Frankfurt a. M. 1990, 39-63, hier 61. 10 Das Moment der Gewalt im Georgeschen Werk hebt auch Adornos subtile Analyse hervor, die sich uploads/Geographie/ claus-artur-scheier-maximins-lichtung-philosophische-bemerkungen-zu-georges-gott 1 .pdf

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