Zwischen Zeichnung und Schrift. Zum Verhältnis von Erfahrung und Diskursivität
Zwischen Zeichnung und Schrift. Zum Verhältnis von Erfahrung und Diskursivität bei Robert Morris und Jacques Derrida Autorin: Barbara Reisinger Erschienen in: ALL-OVER, #4, Frühjahr 2013 Publikationsdatum: 25. März 2013 URL: http://allover-magazin.com/?p=1385 ISSN 2235-1604 Quellennachweis: Barbara Reisinger, Zwischen Zeichnung und Schrift. Zum Verhältnis von Erfahrung und Diskursivität bei Robert Morris und Jacques Derrida, in: ALL-OVER, Nr. 4, Frühjahr 2013, URL: http://allover-magazin.com/?p=1385. Bildsequenz: aus der Werkreihe impatience von Thomas Tudoux. Verwendete Texte, Fotos und grafische Gestaltung sind urheberrechtlich geschützt. Eine kommerzielle Nutzung der Texte und Abbildungen – auch auszugsweise – ist ohne die vorherige schriftliche Genehmigung der Urheber oder Urheberinnen nicht erlaubt. Für den wissenschaftlichen Gebrauch der Inhalte empfehlen wir, sich an die vorgeschla- gene Zitationsweise zu halten, mindestens müssen aber Autor oder Autorin, Titel des Aufsatzes, Titel des Magazins und Permalink des Aufsatzes angeführt werden. © 2013 ALL-OVER | Magazin für Kunst und Ästhetik, Wien/Basel all-over #4 19 Barbara Reisinger Zwischen Zeichnung und Schrift. Zum Verhältnis von Erfahrung und Diskursivität bei Robert Morris und Jacques Derrida In der Terminologie Jacques Derridas unterliegt auch die Zeichnung den Prädikaten der Schrift, die bekanntlich nicht mit ihren geschrie- benen und gedruckten Manifestationen zusammenfällt. Als verall- gemeinerte Schrift kann sie durch jene Prädikate bestimmt werden, die Derrida aus dem klassischen philosophischen Schriftverständnis entwickelt: Lesbar-Bleiben, Iterabilität, Verräumlichung.1 Ein schrift- liches Zeichen in diesem Sinne bleibt als Zeichen lesbar, weil es im- mer wieder auf andere Weise lesbar wird, also iteriert werden kann. Dies ist nur möglich, weil ein Zeichen zwar durch seinen Kontext be- stimmt ist, aber aus diesem Kontext herausgenommen werden kann – die Relation zwischen den Zeichen ist zugleich ihr Abstand vonein- ander, jener Raum, der es dem Zeichen ermöglicht, sich von anderen Gliedern abzulösen und in eine neue Kette einzutreten. Demnach kann nicht nur die Zeichnung als zeichenhaft bestimmt werden, son- dern auch jede Erfahrung.2 Ausgehend von Derridas Argumentation gegen jede Erfahrung reiner Gegenwart und für die Ausweitung des Schriftbegriffs stellt sich die Frage, ob innerhalb der allgemeinen Schrift eine Differenz zwischen Schrift und Zeichnung, zwischen Sprache und Sinnlichkeit gedacht werden kann. Dies wird im Kontext von Derridas eigener Auseinandersetzung mit Zeichnungen beson- ders virulent. Um die feinen Relationen und Differenzen zwischen Schrift und Zeichnung besser fassen zu können, empfiehlt es sich, die Untersuchung der Fragestellung um eine Position zu erweitern, die Schrift und Zeichnung nebeneinander zum Einsatz bringt: die Blind Time Drawings von Robert Morris. Das Verhältnis von Zeichnung und Schrift will ich in zwei parallel laufenden Strängen bei Derrida und bei Morris näher betrachten, um schließlich zu den spezifischen Merk- malen der Sinnlichkeit/der Erfahrung zu gelangen. In seinem Text Aufzeichnungen eines Blinden beschreibt Derrida die Zeichnung zunächst als eine Arbeit der Hand.3 Angesichts der all-over #4 20 klassischen Theorie der Zeichnung ist dies bereits mehr als eine ein- fache Beschreibung, denn die Theorie des Disegno definiert die Zeich- nung vor allem als geistiges Konzept, das sich in Linien am Blatt sam- melt.4 Die Linien stehen an der Schwelle zur Sinnlichkeit, sind aber als Linien weder materiell noch sinnlich (diese Eigenschaften – Ma- terialität und Sinnlichkeit – werden traditionell der Farbe, also der Malerei zugesprochen). Die Zeichnung gilt von der Renaissance bis in den Klassizismus vielmehr als eine vermittels der Linie sichtbar gewordene Idee. Betrachten wir nun die Operation der Hände am Zeichenblatt etwas genauer: Wenn die Hände beim Zeichnen am Papier arbeiten, ist das Auge nur mittelbar am Entstehen des Strichs beteiligt. Dort, wo die Spitze des Bleistifts oder Feder das Papier berührt, ist nichts zu sehen; dort ist das Sehen abwesend – es sind Kontakt und Abdruck, motorische Fertigkeit und Taktilität, die am ‚Ursprung’ des Strichs stehen.5 Damit ist das Zeichnen zunächst nicht nur eine Arbeit der Hand, sondern zugleich eine blinde Arbeit der Hand, oder genauer gesagt der Hände, denn obwohl meistens nur eine Hand zeichnet, ist die zweite Hand nicht untätig. Sie hält und dreht das Zeichenblatt und ist auf diese Weise verantwortlich für die motorische Orientie- rung der ZeichnerInnen am Blatt. Bereits auf einer relativ einfachen, technischen Ebene zeigt sich also ein blinder Fleck oder Punkt im Prozess des Zeichnens.6 Eine blinde Arbeit der Hände – dies scheint zugleich auch eine angemessene Beschreibung der Blind Time Drawings zu sein, die Robert Morris seit 1973 in Serien anfertigt. Schon die erste der insgesamt sie- ben Serien besteht aus 98 Zeichnungen, sodass das gesamte Konvolut der Blind Time Drawings kaum noch überblickbar ist.7 Die Herstel- lung der Zeichnungen mutet dagegen geradezu simpel an und bleibt durch alle Serien hindurch einigermaßen gleich (abgesehen von der zweiten Serie, die der Künstler nicht eigenhändig gezeichnet hat, son- dern von einer Frau ausführen ließ, die von Geburt an blind war). Sonst aber legt Morris für jede Zeichnung eine Aufgabe und eine Zeitspanne fest, bevor er zu zeichnen beginnt. Dann taucht er beide Handflächen in Graphitpulver oder Tusche, schließt die Augen und führt die vorgegebene Aufgabe am Papier aus – ohne zu sehen, was er tut. Im Nachhinein werden die Aufgabenstellung und die Zeitangabe auf dem Blatt notiert (Abb. 1): „With eyes closed, graphite on the hands and estimating a lapsed time of 3 minutes, both hands attempt to descend the page with identical touching motions in an effort to keep to an even vertical column of touches. Time estimation error: +8 seconds.“ Die Rahmenbedingungen des Zeichenprozesses sind genau fest- gelegt und werden den RezipientInnen durch den Text mitgeteilt. Die Rahmenbedingungen werden gewissermaßen ins Werk integriert, so- dass sie nicht mehr bloß Rahmenbedingungen sind, sondern Teil der Zeichnung. Morris besteht selbst darauf, dass die Blind Time Drawings ohne Text unvollständig sind. Wo der Strich oder der Abdruck entsteht, an dem Punkt, wo der Stift oder die Hand das Papier berührt, kann die Zeichnerin nicht/s all-over #4 21 sehen. Dies betrifft das Schreiben ebenso wie das Zeichnen.8 Die Schrift ist, wie das Bild, kein bloßes Transportmittel für Sinn oder Bedeutung. Der Sinn ist, wenn man Derrida folgt, nicht unabhängig von seiner materiellen Form, in der er unweigerlich in Erscheinung tritt, vernehmbar als Stimme oder sichtbar als Schrift. Jedes Zeichen hat eine sinnlich fassbare Form, oder kommt nur als sinnlich Fassba- res zustande. Umgekehrt wird jede Form von Materialität zeichen- haft sein. Nie kann ich eine Zeichnung bloß als Graphit auf Papier auffassen. Wenn ich versuche, auf die Materialität der Zeichnung zurückzugehen, kann ich genau genommen nicht bei Graphit auf Pa- pier stehen bleiben, weil zumindest das Papier wiederum zusammen gesetzt ist. Die Frage nach dem Trägermaterial und dem, was es trägt, verkompliziert sich – Sinnlichkeit und Zeichenhaftigkeit erscheinen als unentwirrbar ineinander verstrickt. Die Zeichnung oder das Bild ist also bereits von Sprache oder von diskursiven Versatzstücken durchdrungen, ohne Text im engeren Abb. 1: Robert Morris, Blind Time I, 1973, Graphitpulver und Leinöl auf Papier, 89 × 117 cm. Transkription: With eyes closed, graphite on the hands and estimating a lapsed time of 3 minutes, both hands attempt to descend the page with identical touching motions in an effort to keep to an even vertical column of touches. Time estimation error: +8 seconds. all-over #4 22 Sinn zu enthalten. Eine Zeichnung ist immer schon mehr oder weni- ger als das Sichtbare: Hier geht es nicht darum, sich der Freude am Spiel zu überlassen oder triumphierend Wörter und Vokabeln zu manipulieren. Im Gegenteil, Sie können hören, wie diese ganz von selbst in der Zeichnung erklingen, mitunter unmittelbar auf ihrer Haut; denn das Gemurmel dieser Silben hat in ihr bereits angehoben, Wortstücke stören sie/schma rotzen an ihr [le parasitent], und um diese Be- sessenheit zu vernehmen, muß man sich den Phantomen des Diskurses überlassen, indem man die Augen schließt.9 An der Oberfläche der Zeichnung ist ein Gemurmel vernehm- bar, das man bloß aufgreifen muss, nicht in die Zeichnung hineinlegen. Aber man muss es vielleicht verdeutlichen oder ausformulieren – und dazu muss man bloß die Worte hören, die in der Zeichnung angelegt sind; man muss die Zeichnung nicht sehen – man muss also, wie Der- rida nahelegt, die Augen schließen. Auch Derrida selbst, der über die Zeichnung schreibt, sieht sich vor die Wahl zwischen Zeichnung und Schrift gestellt.10 Er legt „Netze aus Sprache“ um die Zeichnung, die er als solche nicht schriftlich erfassen, nicht zitieren kann.11 Zwischen dem Gemurmel, das der Zeichnung inhärent ist, und der Sprache, die sich von außen um sie legt, scheint nur eine feine Grenze zu liegen. Sobald das offene, vielsilbige Murmeln in Worte überführt ist, ver- sucht es von seinem fixierten Ort her die Offenheit einzudämmen. Auch ein bloßer Abdruck, eine vermeintlich bloß materielle Spur macht bereits mehr vernehmbar als reines Material oder rei- ne Sinnlichkeit. In den kurzen Texten der Blind Time Drawings for- muliert Morris aus, was in den Abdrücken wiedergegebenen wird. Doch zugleich trifft der Text nicht ganz das, was zu sehen ist – eher ist da zu lesen, was Morris getan hat, während er nicht gesehen hat. Er beschreibt gewissermaßen die „Innenperspektive“ des blinden Vor- gangs, seine Intentionen – oder das, was er zu zeichnen versuchte. Der abgedrückte Ablauf, der zu sehen ist, weicht davon ab. Die Spur deckt sich nicht mit der geschilderten Intention. Durch die Blindheit bei der uploads/Geographie/ reisinger-zwischen-zeichnung-und-schrift.pdf
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