BAYERISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE KLASSE SITZUNG
BAYERISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE KLASSE SITZUNGSBERICHTE JAHRGANG 1995, HEFT 1 WERNER BEIERWALTES Heideggers Rückgang zu den Griechen Vorgetragen in der Gesamtsitzung am 18. Februar 1994 MÜNCHEN 1995 VERLAG DER BAYERISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN In Kommission bei der C.H.Beck’schen Verlagsbuchhandlung München ISSN 0342-5991 ISBN 3 7696 1578 6 © Bayerische Akademie der Wissenschaften München, 1995 Druck der C.H.Beck’schen Buchdruckerei Nördlingen Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier Printed in Germany Für Mihailo Djuric „Herr Schulz, wenn ich denke, dann ist es manchmal so, als ob Heraklit danebensteht“ (Martin Heidegger zu dem Philosophen Walter Schulz in Bebenhausen, nach einem Besuch des Hölderlin-Archivs). i1 Nicht Edmund Husserl oder Wilhelm Dilthey, nicht Hegel oder Kant, nicht Leibniz oder Descartes sind für Heidegger nach „Sein und Zeit“ Inspirateure und Geleiter auf seinem Denk-Weg, der Einer ist, - einzig die Griechen sind es, ihre Philosophen und Dichter, und Dichter der Deutschen auch, die Heidegger im Denken fuhren und die er selbst als Ausdrucksphänomene des Eigenen gebraucht. Aus den Dichtern sind es freilich die „eigentlichen“, die an Einem Gedicht dichten, deren Dichten dem Denken nahe wohnt, die in der Aufhe- bung dessen, was ansonsten Denken und Dichten trennt, auf den noch ausstehenden Vollzug des , Denkens“ vorausweisen und als sol- che kündend, prophetisch, aus einer engagierten Erinnerung an Ver- 1 Vorbemerkung'. Der Titel „Heideggers Rückgang zu den Griechen“ läßt eine umfas- sende Betrachtung dieses Verhältnisses erwarten: ich konzentriere mich allerdings auf Heideggers Einschätzung der Vorsokratiker, besonders Heraklits. Eine Auseinander- setzung mit Heidegger in diesem Felde ist bisher - als eine kritische - noch kaum geführt worden. Emphatisch-vorbehaltlose Zustimmung einerseits und kurzschlüssi- ge Ablehnung oder schlichte Nicht-Beachtung von Heideggers Heraklit (in der fur die Heraklit-Forschung maßgeblichen angelsächsischen Literatur z. B.) andererseits sind die Alternativen, die eine klärende und die Weiterfiihrung des Gedankens vorbereitende Auseinandersetzung noch nicht haben aufkommen lassen; sie soll Heideggers Intention von ihr selbst her als geschichtsphilosophischen Hintergrund seiner Heraklit-Deutung in Frage stellen und vor allem deren methodisches Vorgehen untersuchen. - Die Perspektiven, die ich im folgenden skizziere, mögen als Prolegomena für weitere Über- legungen zu Heideggers Verhältnis zur griechischen Philosophie verstanden werden. 6 Werner Beierwaltes lorenes aber gerade jetzt Notwendiges sagen: Rainer Maria Rilke, Stefan George, Georg Trakl und vor allem — immer wieder und in ständiger Steigerung: Friedrich Hölderlin. Dieser nun ist es auch, der wie kein anderer, aus Schmerz an der Gegenwart und aus glühender Sehnsucht nach immer noch sich verweigernder Erfüllung, nach Ein- heit und „Versöhnung mitten im Streit“ - gegen eine kalt-erhabene Wissenschaft, gegen das, heideggerisch gesagt, verrechnende Vor- stellen des Verstandes und der Vernunft — ein neues Griechenland aus dem Fehl heiliger Namen zu bauen versucht und so das Höchste im Deutschen mit der genuin griechischen Erfahrung des Mythischen ver- eint. Damit ist, d. h. denkt Hölderlin dichtend ganz in der Nähe des- sen, worum es Heidegger im Denken der Griechen für sein eigenes Denken geht: bei den sog. Vorsokratikern und unter ihnen vor allem bei Heraklit. Denn sie allein repräsentieren ursprüngliches, anfängli- ches und daher wesentliches Fragen und Denken; dieses allein auch führt in einen anfänglichen Einblick ins Sein, den Heraklits „Ein- blitz“ eindringlich eröffnet: ... „Alles aber verwaltet der Blitz“, He- raklits Fragment 64 - eingeschrieben auch auf einem vom Blitz zer- spaltenen Ast vor Heideggers Hütte auf Todtnauberg - erinnert an eine anfängliche Erfahrung des Seins, die sich jedoch nahezu unmit- telbar wieder entzog, so daß wir, auch als Denkende, in der Folge dieses Entzugs des Seins, im ,Fehl der Götter“ und ihrer Namen, leben müssen — es sei denn, daß wir im und durch einen Rückgang zu der alten, jetzt noch verschütteten, anfänglichen Denk-Erfahrung der Griechen einen anderen Anfang gewönnen. Dies präcise ist Heideggers Motivation für eine Wendung zu den Griechen hin, die von keinem Philosophen radikaler und inständiger, affirmativer und einseitiger vollzogen wurde seit den Tagen der Re- naissance als von ihm. Allenfalls ist Hegel vergleichbar - in seiner Berufung auf Heraklit, Platon und Aristoteles für das eigene und eigentümliche Ausarbeiten seiner Dialektik der Idee. Relativierung und zugleich geschichtliche Funktionalisierung des Vergangenen auf eigene, d. h. „idealistische“ Vollendung hin ist allerdings als bestim- mendes Prinzip in diesem Denken wirksam; bei Heidegger hingegen zunächst die Erhöhung des Anfangs. Einzig Nietzsche verfährt Hei- degger congenial, indem er das Ursprüngliche, Gewaltsam-Zünden- de im Denken der Griechen als Heraklit entdeckt - „die Welt braucht ewig die Wahrheit, also braucht sie ewig Heraklit: obschon er ihrer Heideggers Rückgang zu den Griechen 7 nicht bedarf'2 — und, wie Heidegger, ganz entschieden in Platon, durch sog. sokratischen Intellektualismus infiziert, die Dekadenz des Denkens beginnen läßt: gegenüber der „Bewegtheit“ Heraklits also die Verfestigung oder Fixierung des Denkens in sogenannte Metaphy- sik; sie zuerst leitet dessen radikale Verbegrifflichung und Kategoria- lisierung nicht nur ein, sondern repräsentiert diese Form des Denkens selbst fortwährend in geschichtlich je verschiedener Weise und Inten- sität. Nietzsche setzt ihr aus der Erinnerung an das frühe Griechentum das Dionysische oder Dionysos als den kommenden Gott entgegen, der einsteht für die Aufwertung des Rausches, des Wahnsinns, der ruhelosen Verwandlungen, aber auch der Abdrängung der Vernunft ins Diffuse oder Irrationale, ein Gott, der in der Gottesferne die Kräfte des Ursprungs erneuert. Bei Heidegger entspricht dem das SEIN durchaus, in messianischer Gebärde eingesetzt gegen verrech- nendes Denken als Modell technizistischer Modernität. - Verbunden in ständig sich intensivierender Reflexion auf ihn als den letzten Me- taphysiker und den „Einläuter“ des Nihilismus ist Heidegger mit Nietzsche3 durch — die gerade angedeutete - Kritik an der „Metaphy- sik“ schlechthin. Sie scheint für beide eine so klar konturierte Größe zu sein, daß sie eine kritische Diskussion der Voraussetzungen und offensichtlichen Vorurteile der eigenen Auffassung davon gar nicht erst zuläßt. „Notwendigkeit“ und Weise von Heideggers Rückgang zu den (frühen) Griechen wird nur evident, wenn man sich Heideg- gers Gebrauch des Wortes Metaphysik als Ausdruck einer geschichts- philosophischen Konstruktion vergegenwärtigt, die mit einer Schuldzu- weisung für den gegenwärtigen Zustand von Denken und Leben an die Metaphysik wesentlich verknüpft ist. Die Wunde der „Metaphy- sik“, so wie Heidegger sie schlägt und konstruiert, das Un-Heile an ihr, ist ihre sog. „Seinsvergessenheit“. Diese bestimmt im Sinne Hei- deggers das gesamte Geschick des abendländischen Denkens, eben von Platon an bis heute; sie ist die Ursache auch für die das technische Zeitalter des universalen „Gestells“ und „Gemächtes“ radikal prägen- 2 Nietzsche, Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Monti- nari. Dritte Abteilung, Zweiter Band (Nachgelassene Schriften 1870-1873). Berlin/ New York 1973, 329 (Kap. 8). 3 Vgl. Heidegger, Nietzsche (Vorlesungen aus den Jahren 1936 bis 1940, Pfullingen 1961) I, 183ff. II, 31 ff. 335 ff. 8 Werner Beierwaltes de Zweckrationalität, die sich im bloß verrechnenden Vorstellen, in der „Logik“ als der „Mißgeburt der Metaphysik“, gefährdend mani- festiert. Heideggers Kritik an diesem abendländischen Geschick und Verhängnis, welches „Metaphysik“ heißt, artikuliert sich in der The- se: diese habe ausschließlich nach dem Sein des Seienden, nicht aber nach dem SEIN als SEIN gefragt und habe dies von ihrem Wesen her gar nicht vermocht. „Seinsvergessenheit“ ist als Selbstbegrenzung der Metaphysik freilich kein beiläufiges Versäumnis, ein Mißverständ- nis, ein Zufall oder eine Vergeßlichkeit von der Art, wie Heidegger dies karikiert, eines Philosophieprofessors, der das „SEIN“ wie den viel berufenen Professoren-„Schirm“ irgendwo hat „stehenlassen“. Seinsvergessenheit meint vielmehr den geschickhaften Selbstaus- schluß der „Metaphysik“ aus der dem Denken aufgegebenen Seins- frage aufgrund ihres eigenen Wesens, ist also eher ein Index von „Seins-Verlassenheit“ der Philosophie, die den Menschen ausschließ- lich einer Reflexion des Seienden mit selbstzerstörerischen Folgen überläßt. Wenn dies die Not oder die Gefahr der Zeit seit langem ist, so zeigt sich für Heidegger aber auch ein Rettendes in und aus dieser Gefahr (der von Heidegger oft „gebrauchte“ Vers aus Hölderlins Hymne „Patmos“ wäre hier zu zitieren: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“): In der Besinnung auf den ersten, ursprünglichen Anfang des Denkens einen neuen, anderen und von der Sache des Denkens her gesehen eigentlichen Anfang zu finden — durch eine „Kehre“ in die nun endlich „eigens“ und nicht nur beiläufig, d. h. durchs Seiende hindurch zu stellende Frage nach dem SEIN. Zuvor aber - und dies heißt jetzt - ist auf die anfänglichen Denker zu hören. Ein derartig hörender Rückgang in den vergessenen Anfang aber ist nicht zu begreifen als eine bloße Repristination oder Wiederholung des Vergangenen, sondern als ein aneignendes Über-Setzen des An- fänglichen ins Zukünftige. Diese Bewegung hat deshalb einen Zug in ein utopisches Noch-Nicht, welches sich als der nicht weiter fortge- führte Anfang herausstellt: „Archäologie“ wird zur „Eschatologie“, und umgekehrt: „eschatologische“ Intention muß in den ersten An- fang zurück, um das noch vor uns Liegende in den Blick nehmen zu können. Die aus dem anfänglichen Denken sich festigende „Meta- physik“ wird so im Sinne Heideggers zu einer Verfallsgeschichte des ursprünglichen Denkens, die wieder zurückgebracht werden muß in Heideggers Rückgang zu den Griechen 9 einen nun entfalteten oder allererst zu entfaltenden Anfang4. Daher verwirklicht sich das gesamte Programm des Heideggerschen Den- kens der Kehre als „Destruktion“ der „Metaphysik“ - dies freilich nicht primär und durchwegs im Sinne von „Zerstörung“, sondern als „Verwindung“ verstanden, um den Weg in den Grund (in die „Wur- zeln“) von „Metaphysik“ freizumachen - also uploads/Geographie/ heideggers-rueckgang-zu-den-griechen-werner-beierwaltes.pdf
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