TOBIAS SCHNEIDER IDEOLOGISCHE GRABENKÄMPFE Der Philosoph Ludwig Klages und der
TOBIAS SCHNEIDER IDEOLOGISCHE GRABENKÄMPFE Der Philosoph Ludwig Klages und der Nationalsozialismus 1933-1938 Das innere Chaos des nach außen mit so eindrucksvoller Geschlossenheit auftreten- den nationalsozialistischen Herrschaftssystems, das sich in den ständigen Macht- kämpfen der Parteiführer, Minister und Dienststellen, dem Gewirr der Kompeten- zen, Bevollmächtigungen und politischen Beziehungen ausdrückte, spiegelt sich auch auf dem Gebiet der nationalsozialistischen Weltanschauung wider. Obwohl die Dienststelle des Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geisti- gen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP immer wieder er- klärte, dass das Hauptwerk von Alfred Rosenberg Der Mythus des 20. Jahrhunderts nach Hitlers Mein Kampf das wichtigste Buch des Nationalsozialismus sei, wurde es doch niemals parteiamtlich als Darstellung der nationalsozialistischen Weltan- schauung anerkannt, und nicht einmal Hitler selbst hat es ganz gelesen1. Stattdessen musste sich Rosenberg über Jahre hinweg immer wieder mit anderen (meist wesent- lich populäreren oder von anderen Parteiführern protegierten) Denkern auseinander- setzen, die ebenfalls die Anerkennung als Philosophen des Nationalsozialismus bean- spruchten. Neben dem bereits 1935 in einem philosophischen Machtkampf unterlegenen Ständestaatstheoretiker Othmar Spann und seinem Kreis muss hier vor allem Ludwig Klages (1872-1956) genannt werden, der mit seiner, noch heute bei rechtskonservati- ven Intellektuellen durchaus beliebten Lehre vom Geist als Widersacher der Seele wohl populärste Philosoph in den Jahren des Dritten Reiches2, der sich mit dem NSDAP-Chefideologen und Alfred Baeumler von 1933 bis 1938 eine hartnäckige - von der zeitgeschichtlichen Forschung bislang allerdings völlig übergangene - Aus- einandersetzung lieferte, in der er unter anderem von der HJ und ihrem Führer Bal- dur von Schirach Unterstützung erhielt. Die Beliebtheit von Klages im Dritten Reich - auch über die Niederlage gegen Rosenberg im Jahre 1938 hinaus - bestätigte noch 1 Vgl. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im na- tionalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 22000. 2 Vgl. Max Bense, Anti-Klages oder von der Würde des Menschen, Berlin 1937, S. 9: „Ebenso merkwürdig ist weiterhin die Tatsache, [...] daß der populärste Philosoph einer Zeit - man wird es nicht leugnen - zugleich auch der mißverstandenste und in seiner These der dunkelste ist." VfZ 49 (2001) © Oldenbourg 2001 ©Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Jahrgang 49 (2001), Heft 2 Inhaltsverzeichnis: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv.html URL: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2001_2.pdf VfZ-Recherche: http://vfz.ifz-muenchen.de 276 Tobias Schneider 1943 die parteiamtliche Deutsche Philosophie der Gegenwart: „Natürlich hat er [Kla- ges] eine gläubige Gemeinde. Aber sein Publikum ist größer. Seine Werke [...] sind alles andere als leichtverständlich, und werden doch gelesen. Wer nüchterne Beglau- bigungen wünscht, kann sich in jeder öffentlichen Bibliothek überzeugen, wie groß die Nachfrage nach ihnen ist; während sich die Bücher der gefeierten Kollegen in- zwischen mit einer Staubschicht bedecken."3 Bis nach dem Ersten Weltkrieg durch die Bücher Prinzipien der Charakterologie (1910), Probleme der Graphologie (1910) und Handschrift und Charakter (1917) vor allem als Psychologe und Graphologe bekannt, war der seit 1915 in der Schweiz lebende Klages mit seinem in den Jahren 1929 bis 1932 in drei Bänden erschienenen philosophischen Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele in den ausgehenden Jahren der Weimarer Republik zu einem der am stärksten beachteten Philosophen geworden; zu seinem 60. Geburtstag am 10. Dezember 1932 wurde ihm von Reichs- präsident Hindenburg die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft - die höch- ste Auszeichnung der Weimarer Republik - verliehen. Die Popularität des Psycholo- gen und Philosophen Klages spiegelt die Stimmung im Deutschland jener Jahre wi- der, ehrte man in ihm doch einen Denker, der sich in seinem Werk mehrfach gegen Demokratie und Liberalismus ausgesprochen und seit 1910 immer wieder einen aus- geprägten Antisemitismus bekundet hatte: „ .Kapitalismus', .Liberalismus', .Marxismus', .Kommunismus' usw. sind Stufen auf dem einen und selben Wege zur völligen Mechanisierung menschlicher Verbände und führen, wie heute selbst Blinde erraten, einem Endzustande der Gesamtheit entgegen, der zu kennzeichnen wäre als freche Herr- schaft einer verhältnismäßig kleinen Minderheit allmächtiger Schmarotzer über ein riesiges Heer völ- kisch zersetzter und wesentlich entseelter Arbeitssklaven. So wenig hat der Marxismus mit der sym- biotischen Ordnung der Vorzeit zu schaffen, daß jeder seiner .Fortschritte' erweislich unter Zertrüm- merung irgendeines hindernden Überlebsels aus dem Zeitalter der Gauverbände erfolgte! Man ver- gleiche etwa das heutige Judenrußland mit dem zarischen Bauernrußland!"4 Neben Klages' Antiparlamentarismus und Antimarxismus und seinem Blut- und Kriegerkult (im Geist als Widersacher der Seele z. B. beschwört Klages das „Blutop- fer des Kriegers im Kampfe"5, umgekehrt sah er sich im Pazifismus mit den „aller- niedrigsten Verherrlichern des Judaismus"6 konfrontiert) ist es vor allem der pene- trante Antisemitismus, der seine Philosophie von Anfang an in unmittelbare Nähe zum Nationalsozialismus rückte. Mochte auch der „Freund" bei Klages und den Na- tionalsozialisten nicht derselbe gewesen sein, der „Feind" - wie Klages in einem Brief an Baldur von Schirach bekannte - war der gleiche: „So gewiss es zutrifft, dass man 3 Gerhard Lehmann, Die deutsche Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1943, S. 446. 4 Ludwig Klages, Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, Leipzig 51936, S. 360. Die Passage findet sich - geringfügig verändert (z. B. hat Klages 1936 den Begriff .Sozialismus' durch .Marxis- mus' ersetzt) - seit 1923 in dem Buch; Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, Leipzig 21923, S. 201. 5 Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, Leipzig 1932, S. 1410. 6 Schreiben von Klages an Werner Deubel vom 24. 2. 1933, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach (künftig: DLA), KA, 61.4471-4478. ©Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Jahrgang 49 (2001), Heft 2 Inhaltsverzeichnis: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv.html URL: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2001_2.pdf VfZ-Recherche: http://vfz.ifz-muenchen.de Ideologische Grabenkämpfe 277 den Menschen an seinen Freunden erkennt, so gewiss auch, dass man ihn an seinen Feinden erkennt. Und allerdings, daran ist kein Zweifel: es waren und sind weitge- hend dieselben Mächte, die der Auswirkung meines Schaffens und die den großen Gedanken und Taten derer sich widersetzen, welche das neue Deutschland erstehen zu lassen berufen waren."7 Dass Klages mit den Mächten, gegen die sowohl er als auch die Nationalsozialisten zu kämpfen hätten, vor allem die Juden meinte, liegt auf der Hand, hatte er doch schon 1910 in Probleme der Graphologie in ihnen den Parasiten der Menschheit aus- gemacht, der ein „Affentum der Kultur" zeitige, die getragen wird „vom unaufhalt- sam empordrängenden Element eines entarteten Semitismus": „... kein Jude' ist je- mals völlig ,bei der Sache'; und kein Jude' ist jemals völlig ,bei sich'. [...] In Wahr- heit: er war niemals ,zu Hause' [...] und das unterscheidet ihn von sämtlichen übri- gen Rassen. [...] bleibt der Jude' unter jedem Himmelsstrich unvernichtbar und im Innersten unveränderbar er selbst; aber beflissen, Gewohnheiten und Sitten seiner Wirte zu teilen und damit den Schein zu wecken wesentlicher Gleichheit."8 Darüber hinaus identifizierte Klages wie die Nationalsozialisten die Juden mit dem schlechthin Negativen, das in seiner Metaphysik der Geist markiert; so sprach er den Juden denn auch die Haupteigenschaften der dem Geist entgegengesetzten Seele (Wesenhaftigkeit, Wahrhaftigkeit, Hingabefähigkeit) und damit ihre Menschlichkeit überhaupt ab und stülpte ihnen umgekehrt die Haupteigenschaften des Geistes (We- senlosigkeit, Lügenhaftigkeit, Begierde) über: „Den Sieg der Geschlechtlichkeit voll- endet der Jude, der keine Wollust, sondern nur Geilheit kennt und den Eros als bloße Beigabe geschlechtlicher Erregungen missversteht. [...] Alles Menschliche ist dem Juden bloß Gebärde, ja sein menschliches Gesicht selbst ist nur eine Maske. Er ist nicht etwa verlogen, sondern die Lüge selbst. Wir stehen also auf dem Punkt zu ent- decken: der Jude ist überhaupt kein Mensch."9 Es liegt auf der Hand, dass das Schlagwort vom „Geist als Widersacher der Seele" von Klages' Publikum nach solchen Äußerungen als eine Paraphrase für den „Kampf der arischen Mächte der Seele" gegen die „jüdischen Mächte des Geistes" gelesen werden musste - und Klages hat dem durch Veröffentlichungen wie dem von ihm selbst herausgegebenen Nachlass-Band Rhythmen und Runen (1944) und insbeson- dere der Einleitung zum Schuler-Nachlass (1940) alles andere als entgegengesteuert. Mit der gesamten judenfeindlichen Asphaltliteratur der Nationalsozialisten vom Handbuch der Judenfrage bis hin zu den Protokollen der Weisen von Zion wohlver- traut, stellte Klages sich hier in Kapiteln mit Überschriften wie Ans Herz des Lebens schlich der Marder Juda, Von einem Juden auf einen Juden und Der Arier erschafft, 7 Schreiben von Klages an Baldur von Schirach vom 14. 2. 1938, in: Ebenda, 61.5583/1-6. 8 Ludwig Klages, Probleme der Graphologie, Leipzig 1910, S. 78 ff.; vgl. auch Ludwig Klages, Der Fall Nietzsche-Wagner in graphologischer Betrachtung, in: Ders., Zur Ausdruckslehre und Cha- rakterkunde. Gesammelte Abhandlungen, Heidelberg 1926, S. 132: „Unter den Rassen ist der per- sönliche Ehrgeiz am stärksten bei den Juden entwickelt". 9 Ludwig Klages, Rhythmen und Runen. Nachlass von ihm selbst herausgegeben, Leipzig 1944, S. 349 bzw. 330. ©Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Jahrgang 49 (2001), Heft 2 Inhaltsverzeichnis: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv.html URL: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2001_2.pdf VfZ-Recherche: http://vfz.ifz-muenchen.de 278 Tobias Schneider der Jude verschafft sich die Welt als Opfer Judas und Judengegner der ersten Stunde dar: „Inzwischen ist nicht weniges von dem, was wir im vorigen Jahrhundert mit Mühe und unter Einbußen erst erarbeiten mussten, fast zum Gemeingut deutscher Bildung geworden. Dank den Leistungen einer großen Reihe von Forschern bedarf es heute keines Disraeli mehr, damit wir wissen, daß die ,Drahtzieher' des Weltkrie- ges und die Geldgeber der russischen Revolution Juden waren. Was es auf sich hat mit .Humanität', .Weltbürgertum', .Liberalismus', .Amerikanismus', .Marxismus', .Internationalismus', .Kommunismus', .Bolschewismus' usw. sieht heute nur der nicht, der es nicht sehen will. Aufgedeckt sind die Ziele uploads/Geographie/ 2001-2-3-schneider.pdf
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