ZÄS 139 (2012) S. Baumann: Beschreibung der Nilflut in Edfu 1 STEFAN BAUMANN Di

ZÄS 139 (2012) S. Baumann: Beschreibung der Nilflut in Edfu 1 STEFAN BAUMANN Die Beschreibung der Nilflut in der Nilkammer von Edfu * Der Nil stellte bis zum Bau des großen As- suanstaudammes mit seiner jährlichen Über- schwemmung das bestimmende Element für den ägyptischen Jahresrhythmus dar. Die Be- schäftigung mit dem Nil war demnach für die Ägypter von vitalem Interesse, doch auch auf die griechischen und römischen Gelehrten, die Ägypten besuchten, übte der Fluss eine große Faszination aus. Dabei beschäftigte sie insbeson- dere die Lokalisierung der Nilquellen und das Rätsel um die Entstehung der Flut mitten im Sommer. In ihren Abhandlungen geben diese antiken Ägyptenreisenden eine detailreiche Be- schreibung der Nilflut als Naturphänomen 1, wäh- rend eine vergleichbare nüchterne Naturbe- schreibung von Seiten der Ägypter nicht über- liefert ist 2. Dieser Umstand kann jedoch mit der ägyptischen Eigenheit erklärt werden, Naturbe- obachtungen meist in mythologischer Form, d. h. als ein Ereignis in der Götterwelt, zu um- schreiben 3. Bezogen auf die Thematik des Nils sind in diesem Zusammenhang der Nilhymnus, die bekannteste und längste hieroglyphische Abhandlung über den Nil, und ein ramessidi- sches Ostrakon zu nennen 4. Beide Texte geben * Es sei an dieser Stelle den Teilnehmern der 3. Pto- lemäischen Sommerschule 2009 in Freudenstadt für ihre Hinweise gedankt. Zusätzliche Hinweise verdanke ich W. Guglielmi und J. Tattko. Ein weiterer Dank gilt S. Lange und V. Altmann fürs Korrekturlesen. 1 Zu den Erwähnungen des Nils in unterschiedlichen Literaturgattungen siehe B. Postl, Die Bedeutung des Nil in der römischen Literatur. Mit besonderer Berück- sichtigung der wichtigsten griechischen Autoren, Wien 1970, 203ff. 2 S. Prell, Der Nil, seine Überschwemmung und sein Kult in Ägypten, in: SAK 28, 2008, 214. 3 So z. B. im Tagewählkalender (C. Leitz, Tagewäh- lerei. Das Buch H#t nHH pH.wy Dt und verwandte Texte, ÄA 55, Wiesbaden 1994). 4 Für eine Textedition des Nilhymnus siehe D. van der Plas, L’hymne à la crue du Nil, 2 Bde., EU 4, Leiden 1986. Der Meinung, dass in dieser Hymne der Verlauf der Flut beschrieben wird, ist auch D. Bon- in gewisser Weise den Verlauf der Nilflut wie- der 5. Mit einer Szene aus der sogenannten Nil- kammer 6 von Edfu soll ein weiterer Beleg vorge- stellt werden, der ebenfalls bei genauer Betrach- tung eine Beschreibung der Nilflut vermittelt. Während für die meisten Tempelräume die exakte Funktion im Kultgeschehen noch immer im Dunkeln liegt, ist die Raumfunktion der Nil- kammer von Edfu weitgehend bekannt. Grund dafür sind eindeutige Aussagen in den Bauin- schriften 7 und den Texten, die an der Außentür des Raumes angebracht sind 8. Man erfährt aus diesen Inschriften, dass die Priester dreimal täg- lich das Wasser für den Kult durch den Seiten- eingang der Nilkammer ins Tempelinnere her- beitrugen. Die Reliefs der Nilkammer, und hierbei insbesondere die Szenen an den Seiten- wänden, sind eindeutig auf die Nilwasser- Thematik abgestimmt 9. neau, La crue du Nil: divinité égyptienne à travers mille ans d’histoire (332 av.–641 ap. J.-C.) d’après les auteurs grecs et latins, et les documents des époques ptolémaï- que, romaine et byzantine, Paris 1964, 409. – Für das Ostrakon siehe H.-W. Fischer-Elfert, Literarische Ostraka der Ramessidenzeit in Übersetzung, KÄT 10, Wiesbaden 1986, 31f. 5 Eine Kurzbeschreibung mit den drei Stationen Steigen, Höchststand und Absinken, findet sich im Soubassement des Pylons von Edfu: „(…) der Nil (…), der aus dem Bein hervorquillt und aus dem Gebiet von Heliopolis hervorkommt, der auf dein hochgelegenes Ackerland 〈gestiegen ist〉, deine Äcker umfangen hat und für dich zu seiner Zeit absinken wird.“ (E VIII, 70, 3 in Übersetzung bei D. Kurth, Edfou VIII, Wiesba- den 1998, 129). 6 Die ägyptischen Bezeichnungen lauten Hrt-ib – „Mit- telraum“ (E VII, 17, 6) und sH – „Kapelle“ (E IV, 6, 5). 7 E VII, 17, 7 in Übersetzung bei D. Kurth, Edfou VII, Die Inschriften des Tempels von Edfu 1, Überset- zungen 2, Wiesbaden 2004, 24 und E II, 239, 14ff. 8 E II, 139, 7–9; 141, 12–15 und 145, 8f. Für Transkription und Übersetzung siehe T. Grothoff, Die Tornamen der ägyptischen Tempel, Aegyptiaca Monasteriensia 1, Aachen 1996, 359f. 9 Mit der Bedeutung der Seitenwände für die Raum- thematik beschäftigte sich umfassend D. Arnold, 2 S. Baumann: Beschreibung der Nilflut in Edfu ZÄS 139 (2011) Die unteren zwei Register der Westwand be- stehen aus je einer Szene, welche sich über die gesamte Raumlänge erstreckt. Das erste Register wird von Horus und einem Götterkollegium eingenommen, das sich aus sechs Urgöttern zusammensetzt. Neben Schu, Thot und Ptah befinden sich darunter die drei Verkörperungen des Urwassers Nun, Niw 10 und Heh 11. Sie sind die Götter, welche die Nilflut herbeiführen, und ergänzend dazu stehen die Götter im zweiten Register, die für den weiteren Verlauf der Über- schwemmung verantwortlich sind 12. Im zweiten Register bringt der König, gefolgt von Hapi, eine Wasserspende (sSm Nwn) für sieben sitzen- de Gottheiten dar. Horus sitzt dabei erneut als Hauptgottheit des Tempels an erster Position und wird von ci#-Ro – „Sia (Einsicht) des Re“ 13, ci#-s#-Wsir – „Sia, der Sohn des Osiris“ 14, K#-pt – „Der Stier des Himmels“ 15, I#ty – „Der zur Stätte Gehörige“ 16, Pxr-Hr-wTs-st.f – „Der mit umge- Wandrelief und Raumfunktion in ägyptischen Tempeln des Neuen Reiches, MÄS 2, München 1963. 10 LGG III, 519 c. 11 D#D#t-tpyt-nwy – „Götterkollegium, das über der Flut ist“ d. h. das über die Flut gebietet (E II, 255, 11 und 14 sowie 259, 14) bzw. D#D#t-imyt-nwn – „Götter- kollegium, das im Urwasser ist“ (E II, 255, 15 und 259, 16f.). 12 É. Drioton, Les origines pharaoniques du nilo- mètre de Rodah, in: BIE 34, 1952, 298. 13 LGG VI, 166 c. Im Berliner Wörterbuch (Wb IV, 14, 2) sind diese und die folgende Gottheit unter dem Lemma s# aufgeführt. Die Belegstelle stammt von der Parallelszene aus Philae. 14 LGG VI, 167 b. 15 LGG VII, 255 b. 16 LGG I, 95 c. wendetem Gesicht, dessen Thron hoch ist“ 17 sowie Imy-Nwn – „Der im Nun ist“ 18 gefolgt (Abb. 1). Frühere Bearbeitungen dieser Szene stammen von É. Drioton und J.-F. Pécoil. Während Ers- terem die Abfolge der Götter unklar blieb und er deswegen versuchte, ihre Reihenfolge neu zu ordnen 19, hat Pécoil eine Gottheit (Pxr-Hr) he- rausgegriffen und anhand ihrer Beischrift ver- sucht, die gesamte Szene zu interpretieren 20. Die hier vorliegende Ausarbeitung hingegen ver- sucht auf der Basis aller Götterbeischriften eine eigene Interpretation vorzulegen. Es wird ge- zeigt werden, dass die Gottheiten jeweils einer zeitlich eingegrenzten Phase in der Über- schwemmungszeit zugeordnet sind. Die Reihen- folge der Götter gibt dabei den chronologischen Verlauf der Nilflut wieder. Die zur Verfügung stehenden hydrologischen und agrikulturellen Daten über die Nilflut rei- chen von der Antike bis zum Bau des großen Staudammes bei Assuan. Aus dem 19. Jh. sind viele sich mit dem Nil befassende Quellen vor- handen und auch aus dem Mittelalter sind einige Texte überliefert, die zeigen, welche Daten für die Bevölkerung von Bedeutung waren. Dabei spielt auch der koptische Kalender mit seinen In- formationen über die Nilflut eine wichtige Rolle. Aus den Jahrhunderten um die Zeitenwende sind 17 LGG III, 110 b. 18 LGG I, 238 c. 19 „On ne discerne pas le système qui a determiné cet ordre“ (É. Drioton, in: BIE 34, 1952, 302). 20 J.-F. Pécoil, Les sources mythiques du Nil, in: BSEG 17, 1993, 97–110. Abb. 1. Das zweite Register auf der Westwand in der Nilkammer von Edfu. (Zeichnung des Verfassers anhand der Fototafeln E XII, 413 und 414). ZÄS 139 (2012) S. Baumann: Beschreibung der Nilflut in Edfu 3 es die klassischen Autoren, die über die Lebens- gewohnheiten und Bräuche am Nil schreiben. Textstruktur Die Beischriften von Edfu lassen sich nach ihrer inneren Struktur in vier Teile (A–D) un- tergliedern. Der Satzbau des ersten, mit A ge- kennzeichneten Teiles deckt sich bei allen sechs Göttern; lediglich das Verb der Bewegung sowie das Nomen für Wasser und das für Acker wur- den durch Synonyme ersetzt, sodass der Inhalt, d. h. die Satzaussage prinzipiell übereinstimmt. Eine vereinfachte Übersetzung für alle sechs Beischriften würde lauten: „Ich lasse für dich das Wasser auf die Äcker gelangen.“ Die Voka- beln wurden dabei zum einen so gewählt, dass Alliterationen entstehen, zum anderen sollte die Wortwahl einen Hinweis darauf geben, wie weit die Überschwemmung bei dem jeweiligen Gott bereits vorangeschritten ist. Der zweite, mit B markierte Bestandteil der Beischrift nennt schließlich den Namen der jeweiligen Gottheit, auf dem die zuvor aufge- reihten Alliterationen basieren 21. Die Götter werden stets durch Dd mdw in eingeleitet; nach der Nennung des Namens folgen schließlich die jeweiligen Epitheta. In dem mit C und D gekennzeichneten Teil der Inschrift wird schließlich die Rolle des Got- tes im Verlauf der Nilflut thematisiert. Dabei werden oftmals spezifische Aufgaben erwähnt, die wie Teil A jeweils eine Zuordnung der Gott- heit zu einem bestimmten Stadium im Verlauf der Nilflut zulassen. Daneben kann an dieser Stelle im Text auch erwähnt werden, dass die jeweilige Gottheit grundsätzlich für die Entste- 21 Bei den inhaltlich vergleichbaren Alliterationen im ersten Register wird der Name der Gottheit vorange- stellt (E II, 256, 4–9). Ähnliche Alliterationen finden sich bei uploads/Geographie/ stefan-baumann-die-beschreibung-der-nilflut-in-der-nilkammer-von-edfu.pdf

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