Vulgata in Dialogue 2 (2018) 15–30 ÜBERSETZUNGSVARIANTEN DER SCHLÜSSELBEGRIFFE

Vulgata in Dialogue 2 (2018) 15–30 ÜBERSETZUNGSVARIANTEN DER SCHLÜSSELBEGRIFFE IN GEN 6,4: WIE FÜGEN SICH DIE GIGANTES AUS GENESIS 6,1–4 IN DEN KONTEXT DER HEBRÄISCHEN BIBEL? Brigitta Schmid Pfändler1 ABSTRACT This essay offers an introduction to Gen 6,1–4 in a linguistic and a semantic overview and in a comprehensive analysis of Jerome’s transmission of verse 4 in his Biblia Sacra Vulgata. The main emphasis lies on the semantic characteristics of the Hebrew words נִּפפםילםיים and םי ים ר גּםיבּ ר. Their semantic meaning will be analized as well as the far-reaching scope of connotations. Another focus lies on the fact, that Gen 6,1–4 opens the possibilities of in- terpretation to the wide field of mythology in the ancient world. Several corresponding, even contradictory impulses will be taken in account, to show how Jerome’s translation can be situated in this context. The essay concludes with an open thesis on the origins of the se- mantic image field נִּפפםילםיים. KEYWORDS Jerome, Giborim, gigantes, myth, Nephilim, Rephaim, sons of gods ZUSAMMENFASSUNG Dieser Artikel führt mit einer linguistischen und semantischen Übersicht an Gen 6,1–4 heran. Es folgt eine Analyse der Übersetzung von Vers 4 in der Bi- blia Sacra Vulgata des Hieronymus. Der Schwerpunkt liegt auf den semantischen Bedeutun- gen der hebräischen Wörter נִּפפםילםיים und םי ים ר גּםיבּ ר. Sie werden analysiert, zusammen mit den vielfältigen möglichen Konnotationen. Ein weiterer Fokus liegt auf der Tatsache, dass die In- terpretationsmöglichkeiten für Gen 6,1–4 offen sind für das weite Feld der Mythologie in der antiken Welt. Verschiedene zusammengehörende, aber auch widersprüchliche Impulse wer- den betrachtet, um zu zeigen, wie die Übersetzung des Hieronymus in diesem Kontext situ- iert werden kann. Abschliessend wird eine offene These zu den Ursprüngen des semanti- schen Bildfeldes der נִּפפםילםיים formuliert. SCHLAGWORTE Giborim, Hieronymus, Mythos, Nephilim, Rephaim, Riesen, Söhne der Götter 1. Lic phil I Brigitta Schmid Pfändler, Studentin im Masterstudiengang Theologie an der Theo- logischen Hochschule, Chur. E-Mail: brigitta.schmid [at] bluewin.ch  https://orcid.org/0000-0002-1027-9194 DOI: https://doi.org/10.25788/vidbor.v2i0.31 16 BRIGITTA SCHMID PFÄNDLER Die Perikope Gen 6,1–4 ist eine der prominentesten Scharnierstellen in der biblischen Urgeschichte, von einem Verfasser/den Verfassern2 bewusst gestaltet und wohl erst spät in den Endtext eingefügt. Mit ihrer auffälligen Struktur und Thematik hat sie unterschiedlichste Interpretationsvarianten provoziert. In dem kontrovers diskutierten Punkt um die Agierenden in dieser Perikope, die בִפניי־האאללהםיים (V 2, V 4; „Söhne der Götter“ 3) herrscht heute breiter For- schungskonsens4 darüber, dass hier wohl keine Engel5 agieren, sondern „Götter- wesen“, d.h. zur Gattung der Elohim gehörende Wesen6 gemeint sind7. Eine derart auffällige Nennung hat – zusammen mit dem thematischen Fokus der gesamten Perikope8 – die Frage nach dem Anteil eines mythologischen Urtextes immer wieder neu aufgeworfen und auch mit unterschiedlichem Fokus beantwortet. Der vorliegende Aufsatz geht der Frage nach, wie der Schlüsselvers Gen 6,4 in der Biblia Sacra Vulgata des Hieronymus übersetzt wird. Vorrangig geht es um das Interpretationsspektrum, das die Wortwahl des Hieronymus den zentra- len Begriffen נִּפפםילםיים und גּםיבּררםיים eröffnet. Weiter wird danach gefragt, inwiefern die Text- resp. Übersetzungsvariante des Hieronymus eine Anlehnung an den hebräischen Text oder aber an die Septuaginta-Tradition erkennen lässt und wie der Text in der Auslegungstradition zu positionieren ist. 1 Die Perikope Gen 6,1–4 Die kurze Perikope Gen 6,1–4 „weist verschiedene philologische und seman- tische Schwierigkeiten auf, ist inhaltlich kryptisch und in ihrer Datierung stark 2. Im Folgenden wird der Begriff Verfasser verwendet, der hier weder männlich noch weiblich konnotiert ist, sondern die schriftliche Arbeit am Endtext meint, so wie er vorliegt. 3. Steht im hebräischen Text im Plural und wird im Folgenden auch im Deutschen als solcher wiedergegeben (vgl.: Bührer, Walter: Göttersöhne und Menschentöchter: Gen 6,1–4 als innerbibli- sche Schriftauslegung; in: ZAW 123, 2011, 497 ff.); weiter wird auf die Thematik in diesem Text nicht eingegangen. 4. Vgl. Bührer, 496, oder Westermann, Claus: Biblischer Kommentar. Bd. 1., Genesis / Teilbd. 1. Genesis 1 – 11, Neukirchen-Vluyn 1974, 493 f. 5. Wie in vielen Interpretationsvarianten stillschweigend vorausgesetzt. 6. Diese Lesart wird durch die Wahl der Töchter des Menschen als Gegenüber betont. 7. Diese Bezeichnung findet sich nur noch an wenigen anderen Stellen in der hebräischen Bibel; z.B. in Ijob 1,6; 2,1; 38,7 und Dtn 32,8 und in einzelnen Psalmen. 8. Die sexuelle Verbindung von Söhnen der Götter mit den Töchtern des Menschen. ÜBERSETZUNGSVARIANTEN GEN 6,4 17 umstritten.“9 Mit וייִפהםיי כּםיי־היחיל האאָדאם... 10 setzt in Vers 1 eine neue Erzählung ein, die den Zusammenhang zwischen der Noah- und der Fluterzählung unter- bricht. Dieser erste Vers berichtet von der Vermehrung der Menschen auf der Erde. Die eigentliche Handlung setzt damit ein, dass die Söhne der Götter sahen wie schön (wörtlich ‚gut‘: טרברת) die Töchter des Menschen11 waren (V 2a). Ih- nen wird hier mit den Töchtern des Menschen eine Gruppe von Handelnden ge- genüber gestellt, die im bisherigen Text der Urgeschichte nicht vorgekommen ist und die an dieser Stelle in auffallender Weise auch nicht speziell eingeführt wird. So muss davon ausgegangen werden, dass diese Bezeichnung den ur- sprünglichen Adressaten des Textes geläufig gewesen ist: Es geht um Götterwe- sen, die sexuelle Verbindungen12 mit den Töchtern des Menschen eingehen. „Es liegt wohl nahe zu vermuten, dass die Gegenüberstellung mit den Töchtern der Men- schen gewählt ist, um festzuhalten, dass es hier um eine Begegnung von göttlicher und menschlicher Welt geht.“13 Eine zentrale Aussage14 wird in Vers 4 gemacht: die Handlung kommt im Ent- stehen der םי ים ר גּםיבּ ר zu einem Ziel. Dieses Geschehen bleibt, für sich genommen, im Rahmen einer genealogischen Mitteilung, wie sie in der Urgeschichte mehr- fach vorkommt. Mit Westermann kann aber davon ausgegangen werden, dass es sich hier nicht nur um eine erweiterte genealogische Notiz mit begründendem ätiologischem Ziel15 handelt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Vers 3 eine ganz andere sachliche und stilistische Dynamik hineinbringt. Dieser Vers hat inhalt- lich zunächst keine direkte Verbindung zum Erzählverlauf und kann damit als vom Verfasser sekundär16 eingefügt angesehen werden. Syntaktisch wird der Er- 9. Bührer, 495. 10. Bemerkenswert ist, dass bereits Gen 5,30–32 mit einem identischen Satzanfang aus dem Er- zählfluss des Kapitels 5 hinaus treten. 11. Steht im hebräischen Text im auffälligen Singular und wird auch in diesem Text im Singular wiedergegeben. 12. Gesenius, Wilhelm: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testa- ment, 2013, 129: mit dem Verb בוא „hineingehen, eintreten“, aber auch „beiwohnen“ wird hier eine sexuelle Konnotation mitgelesen. 13. Bartelmus, Rüdiger: Heroentum in Israel und seiner Umwelt, AThANT 65 (1979) 15. 14. Vgl. Westermann, 494. 15. Wie z.B. in Gen 5,30–32. 16. Erklärend, interpretierend. 18 BRIGITTA SCHMID PFÄNDLER zählfluss aus den Versen 1 und 2 in Vers 3 mit der einleitenden Konsekutivform אמרר יִפהואה וייּ ר zwar nahtlos fortgesetzt, inhaltlich wird aber eine Reaktion JHWHs geschildert, die wohl auf die Handlung aus Vers 2 folgen kann, seman- tisch aber nicht direkt daraus zu folgern ist.17 2 Die Syntax von Gen 6,4 Tabelle 01: hebräischer Text Genesis 6,4 mit Übersetzung Genesis 6,4 (BHQ18) Genesis 6,4 (eigene Arbeitsübersetzung) ר ץ בּייּאמםיים האהים הינִּפפםילםיים האיו באאָר י י־כין י חחרר וִפגים א א חאָדאם א חאללהםיים ארל־בִּפנ רות ה או בִּפניי ה ארשרר יאב ר וִפיאלִפדו לאהרם י חם׃ םי ים ארשרר מיע רולאם אנִפשיי היש ר הימאה היגּםיבּ ר Die Nephilim [Gefallenen] waren auf der Erde, in (jenen) Tagen (waren) sie und auch danach (noch), als (welche) als (hinein) gingen Söhne der Götter zu Töchtern des Menschen (Sg.) und sie zeugten/gebaren, durch sie, sie (selbst) die Giborim [Mächtigen], welche von Zeiten (her) Männer (des) Namens. Vers 4 folgt ziemlich abrupt19 auf Vers 3. Er weist, als komplexes Gefüge kur- zer Sätze, deren Neben- und Unterordnung im gesamten Aufbau nicht einfach zu klären sind20, verschiedene syntaktische Spannungen auf. Der erste Satzteil (V 4a) „Die Nephilim waren auf der Erde, in (jenen) Tagen“ steht ohne Verbin- dung nach vorn oder hinten da und wird gefolgt von einer Konkretisierung / Korrektur: „und auch danach (noch)“. Unklar ist, woran der folgende Rela- tivsatz mit ארשרר (welche)21 anschliesst. Dieses Relativpronomen muss wohl als temporales „als“22 aufgefasst werden, womit es auf eine nachträgliche Verknüp- fung der beiden Sätze hinweist. Diese Verknüpfung ihrerseits kann auf eine Stö- rung des Textes an dieser Stelle hindeuten. Der folgende Satzteil „(hinein) gin- gen Söhne der Götter zu Töchtern des Menschen“ (V 4b) schliesst inhaltlich di- 17. Vgl. Westermann, 500. 18. Biblia Hebraica Quinta (BHQ), Tal, Abraham, Genesis. Band 1, 2015, 15. 19. Ist im überlieferten Zustand keine intakte und kohärente Weiterführung der vorangegange- nen Verse 1–3. 20. Vgl. Bartelmus, 20. 21. Dieser Satzteil fällt zudem durch einen Tempuswechsel in die Jiktol-/ Imperfekt-Form auf. 22. Vgl. Westermann, 509. ÜBERSETZUNGSVARIANTEN GEN 6,4 19 rekt an Vers 2 an, markiert aber, durch die Einleitung mit ארשרר zu einem Ne- bensatz gemacht, einen Bruch im Erzählverlauf.23 Darauf folgt ein kurzer Ver- balsatz über die Geburt von Kindern. Der abschliessende konstatierend, formel- artig anmutende Nominalsatz „die Giborim (Mächtigen), welche von Zeiten (her) Männer (des) Namens“ (V 4c) schliesst dieses Satzgefüge ab. Zum besseren Verständnis der einzelnen Satzteile für sich und ihres Verhält- nisses zueinander kann die Bestimmung der Satzarten hinzugezogen werden. Nach Westermann24 sind die Versteile 4a und 4c Zustandssätze, Vers 4b gibt zwei uploads/Litterature/ 31-artikeltext-99-1-10-20180530.pdf

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