„CHARACTERS AND CARICATURAS” Selbstreflexivität und Geschlechterkonzepte in den

„CHARACTERS AND CARICATURAS” Selbstreflexivität und Geschlechterkonzepte in den englischen Charakterskizzen des 17. Jahrhunderts Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Universität Konstanz vorgelegt von Katrin Hockenjos Konstanz 2000 i EINLEITUNG I. BEGRIFFS- UND FUNKTIONSBESTIMMUNG VON ‘CHARAKTERSKIZZE’...............................................................5 II. GATTUNGSGESCHICHTLICHER ÜBERBLICK......................................................................................................8 1. Beginn in der Antike...................................................................................................................................8 2. Wiederaufnahme im 17. Jahrhundert.......................................................................................................10 3. Fortführung in den Moralischen Wochenschriften ..................................................................................13 4. Das 19. Jahrhundert: Hinzunahme eines ‘plot’.......................................................................................16 III. ZIELSETZUNG UND FORSCHUNGSSTAND ......................................................................................................18 1. Zielsetzung ...............................................................................................................................................18 2. Forschungsstand......................................................................................................................................25 A. „THE NATURE OF A CHARACTER” - ZUM CHARAKTERBEGRIFF IM 17. JAHRHUNDERT ..29 I. JOSEPH HALL: „A PREMONITION OF THE TITLE AND USE OF CHARACTERS” (1608)...................................31 1. Die Überlieferungssituation und Legitimierung des Genres....................................................................32 2. Die Kombination von Individuellem und Generischem als Kunst der Charakterskizze...........................32 3. Moraldidaxe als wirkungspoetische Funktion .........................................................................................33 4. Charaktertheorie und ‘Sister Arts’-Topos................................................................................................34 5. Das Prinzip der kreativen ‘imitatio’ und Halls Selbstverortung..............................................................35 II. „WHAT A CHARACTER IS” IN DER OVERBURY COLLECTION (1616) ..................................................................38 1. Zur Etymologie des Charakterbegriffs.....................................................................................................38 2. Schrifttheoretische Implikationen: Der Charakter als Buchstabe ...........................................................39 3. Der Charakter als Gedächtnisspur ..........................................................................................................42 4. Der Charakter als Emblem, Hieroglyphe und Imprese............................................................................43 5. Der Charakter als dichterische Darstellungsform...................................................................................46 6. Die Verbindung der Medien Bild und Ton...............................................................................................46 7. Ästhetisierung durch die „witty manner” - Die Bestimmung des Komischen..........................................48 8. „By our English levell” - Zur Etablierung des Genres............................................................................50 III. „A CHARACTER OF ONE THAT WRITES CHARACTERS” (ANONYM) ..............................................................51 1. Lesbarkeit und Druckgeschichte..............................................................................................................52 2. Alte literarische Topoi: Bienen- und Schauspielmetapher.......................................................................53 IV. RICHARD BRATHWAITE: „EPISTLE DEDICATORIE TO WHIMZIES” (1631).....................................................54 V. RICHARD FLECKNOE: „OF THE AUTHORS IDEA, OR OF A CHARACTER” (1658) ............................................59 1. Klarheit und Einfachheit im Ausdruck.....................................................................................................59 2. Der Rekurs auf bekannte Topoi: Münze, Orakel, Musik..........................................................................61 3. Der literarische Status der Charakterskizze und ihre Kontrastbildung ...................................................61 4. Der Übergang zum ‘portrait’...................................................................................................................61 5. Die Nähe zur Predigt ...............................................................................................................................62 ii 6. Schreiben als Reise ..................................................................................................................................62 VI. SAMUEL PERSON: „CHARACTER OF A CHARACTER” (1664)........................................................................64 1. Der Charakter als Spiegel........................................................................................................................67 2. Mikrokosmographie und Kartographie....................................................................................................69 3. Der Charakter als Anatomie....................................................................................................................72 4. Der Charakter als Buch ...........................................................................................................................73 5. Charakter und Physiognomik...................................................................................................................76 6. Ein letztes Mal: Typographie, Etymologie, Formalia..............................................................................78 VII. RALPH JOHNSON: „A CHARACTER” (1665)................................................................................................79 B. „WITHIN THE BOUNDS OF MODESTY” - DIE CHARACTERS UND IHR BEITRAG ZUR KONSTRUKTION VON WEIBLICHKEIT.....................................................................................................83 I. SPIEGEL- UND ZERRBILDER: ENTWÜRFE VON FRAUENBILDERN IM LITERARISCHEN UMFELD DER CHARAKTERSKIZZEN .........................................................................................................................................90 1. Zur Geschichte der Geschlechterprojektionen.........................................................................................90 2. Referenztexte der ‘characters’ .................................................................................................................94 II. DER PROTOTYP: OVERBURYS FRAUENPORTRÄTS.........................................................................................98 1. Overburys „A good Wife” als Beispiel einer Charakterskizze.................................................................99 2. Die ‘Overbury Collection’ und ihre Konzepte von Autor und Text........................................................104 3. Formanalyse ..........................................................................................................................................109 4. Das Typeninventar: „A mans best moveable” oder „a mans walking consumption”?.........................112 4.1 Die Ehefrau als Wunschbild.............................................................................................................................112 4.2 Die Ehefrau als Angstbild.................................................................................................................................119 4.3 Overburys Konzeption der Frauencharaktere - ein Zwischenstand ..................................................................125 4.4 Die Witwe - „Shee never receives but one mans impression” ..........................................................................128 5. Overburys Lehrgedicht über die Ehe: „A Wife”....................................................................................136 III. FORMALE VARIANZ UND INHALTLICHE KONSTANZ DER FRAUENPORTRÄTS ..............................................140 1. Nicholas Bretons symmetrie- und ordnungsmächtige Justierung..........................................................140 2. Die Ausgestaltung zur Szene: Henry Parrot und Wye Saltonstall .........................................................150 3. Abkehr von Kürze und Epigrammatik: William Habingtons ‘characters’.............................................160 4. Thomas Fullers Illustration biblischer Klugheitsregeln ........................................................................165 5. Richard Flecknoes Tendenz zu individualisierenden Konturen.............................................................170 6. Richard Graham Prestons Charaktererzählung ....................................................................................175 7. Nahum Tates Charaktere in versifizierter Form ....................................................................................187 8. Thomas Browns ‘essay characters’........................................................................................................191 IV. FRAUEN ALS VERFASSERINNEN VON CHARAKTERSKIZZEN........................................................................198 1. „Mad Madge of Newcastle” und die ‘portrait’-Tradition .....................................................................199 2. Die dramatisierte Charakterskizze bei Aphra Behn...............................................................................207 iii 3. Der Essay als Ausdrucksform des „cartesianischen Feminismus”........................................................209 3.1 Mary Astells „Serious Proposal”......................................................................................................................210 3.2 Judith Drakes „An Essay in Defense of the female Sex”..................................................................................213 4. Ausblick: ‘characters’ in Versform und ‘characters’ im Roman ...........................................................219 C. „WITHIN THE DEGREES OF PROBABILITY” - AUSBLICK AUF DAS 18. JAHRHUNDERT ....225 I. „HOW ... I AM MYSELF?” - DIE GESELLSCHAFTSPHILOSOPHIE DES DRITTEN EARL OF SHAFTESBURY...........226 1. „What honesty or virtue is” - Shaftesburys Ethik und Anthropologie ...................................................226 2. Der Charakterbegriff bei Shaftesbury - eine Annäherung .....................................................................229 II. HENRY GALLYS „A CRITICAL ESSAY ON CHARACTERISTIC-WRITINGS” (1725) ALS BEITRAG ZUR DICHTUNGSTHEORIE........................................................................................................................................237 EXKURS: DAS 20. JAHRHUNDERT MIT CANETTI UND JOYCE.........................................................249 ZUSAMMENFASSUNG...................................................................................................................................255 BIBLIOGRAPHIE ............................................................................................................................................258 PRIMÄRLITERATUR ..........................................................................................................................................258 SEKUNDÄRLITERATUR .....................................................................................................................................261 1 Die hier abgebildete und von William Hogarth angefertigte Radierung „Characters and Cari- caturas” (1743) trägt den Charakterbegriff bereits im Titel. Sie war zunächst als Subskrip- tionskarte für einen Gemäldezyklus gedacht. Der kleinformatige Stich, den Hogarth mit Sorg- falt und Reflexion entwarf, sollte die Thematik des Zyklus ankündigen und war die Quittung für erfolgte Zahlungen. Die Radierung führt in ihrer unteren Zone durch Schrift und Bild in die Thematik des Blattes ein. Links über dem Schriftzug „3 CHARACTERS” erscheinen drei Köpfe aus dem von Hogarth immer wieder konsultierten Raffaelkarton, davon getrennt rechts über „4 CARICATURAS” Köpfe nach Pier-Leone Ghezz, Annibale Caracci sowie Leonardo 2 da Vinci und dazu eine Kinderzeichnung.1 Darunter findet sich die Zeile: „Zur weiteren Er- läuterung des Unterschieds zwischen Charakter und Karikatur - siehe das Vorwort zu Joseph Andrews”. Hogarth spielt damit auf einen Roman von Henry Fielding an, in dessen Vorwort der Autor wiederum auf Hogarth verweist, um den Roman als komische Dichtung gegenüber der tragischen und ernsten Literatur zu legitimieren. In dieser Parallelisierung von Literatur und Malerei „werden das Komische und der Charakter sowie das Burleske und die Karikatur einander zugeordnet und als Gegensatzpaare begriffen.”2 Hogarth und Fielding ging es um die Etablierung neuer (bürgerlicher) Kunstgattungen, die sich jenseits der tragischen und histori- schen Kunst und jenseits des bloßen Schwankes, der Burleske, der Karikatur ansiedelten. Ka- rikatur und Burleske sind „nur Verzeichnungen und Verballhornungen der Natur, während die Vorstellung von Charakter im Gegenteil eine Explikation der jeweiligen menschlichen Natur” ist.3 Genau auf diese Differenz kommt es in der Radierung an. Denn dieser geht es nicht nur um die feine Trennlinie zwischen Charakter und Karikatur, sondern auch um die Frage, wel- che Anzeichen oder Züge ein Gesicht individualisieren und welche es verzerren. Nicht zuletzt thematisiert sie die Möglichkeiten einer Differenzierung nach Typen, Individuen und deren Erfassung durch die Physiognomie. Über die klassischen Charaktere von Raffael, die in Kontrast zu den Karikaturen (rechts un- ten) stehen, werden bunt gemischt 100 Köpfe gesetzt, die laut Hogarth alle im Gemäldezyklus auftauchen und nicht übertrieben seien. Betrachtet man diese durchweg männlichen Profile, stellt man fest, daß sie nur minimal in ihren physiognomischen Details differieren. Ihre Viel- zahl scheint den Betrachter mit Einzelheiten zu überhäufen und seine Wahrnehmung beinahe zu überfordern. Hogarth kontrastiert hier die statistische Erfassung einer empirischen Vielfalt mit der Möglichkeit einer Vereinheitlichung. Je länger man das Bild ansieht, umso deutlicher wird, daß sich die Trennlinie zwischen Cha- rakter und Karikatur durch das gesamte Bild hindurch verfolgen läßt. Im unteren Fünftel der 1 Vgl. Berthold Hinz und Hartmut Krug, eds., Hogarth: 1697-1764. Das vollständige graphische Werk, Gie- ßen 1986, S. 168. 2 Ebd. 3 Ebd. S. 169. Deidre Lynch, The Economy of Character. Novels, Market Culture, and the Business of Inner Meaning, Chicago/London 1998, S. 66 konstatiert: „In the catalog published by Sayers and Bennett’s print warehouse in 1775, an advertisement for Character and Caricaturas described Hogarth’s manifesto as demonstrating ‘Character to be a small deviation from general proportions, and [showing that] Caricatura is only that deviation exaggerated.’ The ad rewrites Hogarth’s attempt to polarize the two modes of characterizing and the two kinds of art. It opposes them, precariously, in terms of a quantitative rather than a qualitative difference.” 3 Radierung ist diese Linie noch explizit gezeichnet, dann aber durchzieht sie unsichtbar die gesamte Graphik. Zwei Profile stoßen in der unteren Bildmitte Nase an Nase, und bereits im Paar darunter sind die Nasen physiognomisch entstellt, da die Trennlinie durch beide hin- durch geht. Bei der Betrachtung der verschiedenen Köpfe läßt sich fragen, wie Menschen zu ihrer Identität gelangen. Was macht sie wiedererkennbar? Wie werden sie entworfen und was zeichnet sie letztlich aus? Es ist die Exaktheit der Linienführung und die genaue Beobach- tung, die darauf antwortet. Hogarth führt hier explizit den Topos von der Lesbarkeit des Men- schen, dessen Voraussetzung die erkennbaren Unterschiede sind, vor Augen. Mit dieser Radierung wird eine Thematik sichtbar, deren Wurzeln nicht zuletzt im 17. Jahr- hundert zu finden sind. So faßt der Titel auch jene zwei Pole zusammen, denen sich die vor- liegende Arbeit widmet: es soll darin zum einen um Charaktere, insbesondere den Charakter- begriff gehen und zum anderen werden Karikaturen vorgestellt, die im Rahmen der literari- schen Gattung Charakterskizze formuliert worden sind. Vom Maler zum Autor ist es dabei nur ein kleiner Schritt, denn die zeichnerische Form der Skizze beschreibt die schriftstelleri- sche Eigenart des Genres.4 Die Nähe von Literatur und Malerei, wie sie explizit in der Radierung zum Ausdruck kommt, verweist auf bestimmte innovative Ansprüche der literarischen Gattung Charakterskizze. So lassen sich Parallelen zwischen malerischem und literarischem Verfahren feststellen: Die Skizze5 des Zeichners beruht auf Schnelligkeit und Spontaneität (ital. schizzo bedeutet neben ‘hinspritzen’, auch ‘knapp schildern’). Sie ist ein „aufs Papier gebannter Gedanke”6, die ihre Lebendigkeit und Suggestion vor allem daraus gewinnt, daß sie in hohem Maße vereinfacht und zusammenfaßt und gerade dadurch Formempfinden und die eigene Seherfahrung des Be- 4 Bereits Montaigne hatte in seinem Essay „Über die Freundschaft” die eigene Schreibweise mit dem Vorge- hen eines Malers verglichen: „Als ich einem Maler, der für mich tätig ist, uploads/Litterature/ katrin.pdf

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