3 ZUSAMMENFASSUNG Das Zahlenkampfspiel steht in der Tradition von De institutio
3 ZUSAMMENFASSUNG Das Zahlenkampfspiel steht in der Tradition von De institutione arithmetica des spätantiken Gelehrten und Staatsmannes Boethius, die über Nikomachos von Gerasa auf neupythagoreische Zahlenlehren zurückgeht. Seine Erfindung ist um 1030 anzusetzen. Dann findet man zunächst Bearbeitungen aus Süddeutschland; die Fassung eines nicht genauer identifizierbaren Mönchs des Klosters St. Emmeram um 1090 gehört zu den ältesten. Später erfolgte eine Verbreitung über das heutige Belgien nach Frankreich und England; die erste deutschsprachige Version stammt von Abraham Riese, dem Sohn des Adam, aus dem Jahre 1562. Anfang des 17. Jahrhunderts zog die Rithmomachie in ihrer Wertschätzung durch den Adel mit dem Schachspiel gleich. Danach geriet sie schnell in Vergessenheit. Sie wurde erst im 19. Jahrhundert von Mathematikhistorikern wieder entdeckt. Die Rithmomachie ist ein Brettspiel. Die Spielfeldgröße wurde im Laufe der Zeit auf ein doppeltes Schachbrett mit 8 mal 16 Feldern standardisiert. Die Zahlenwerte der Spielsteine errechnen sich unter Verwendung von speziellen, seit der Antike bekannten Proportionen, die auch für die Charakterisierung von Tonverhältnissen in der Musik und Längenverhältnissen in Geometrie (Architektur) und Astronomie bedeutsam sind (die Arithmetik bildete zusammen mit diesen drei Disziplinen das Quadrivium der artes liberales). Die Spielsteine werden in drei Gruppen zu je acht unterteilt, denen jeweils eine andere Proportion zugrunde liegt. Die Zugweite der Spielsteine hängt davon ab, zu welcher Gruppe sie gehören. Wie in anderen Brettspielen auch können eigene Steine gegnerische schlagen; die Regeln dafür basieren beim Regensburger Anonymus auf der Addition und Multiplikation, bei späteren Erweiterungen auf allen vier Grundrechnungsarten. Um den Sieg zu erringen, müssen drei Spielsteine nebeneinander gesetzt werden, deren Werte bestimmten Mittelwertbedingungen genügen. Eine kulturhistorische Perspektive verlangt, über eine bloße Diskussion von mathematischem Inhalt, Spielstrategien und Siegbedingungen sowie Möglichkeiten multimedialer Präsentation hinauszugehen und das Spiel in seinem historischen Kontext zu betrachten, um das in ihm liegende Erkenntnispotential voll auszuschöpfen. Die Rithmomachie verfügt über ein breites Zweckpotential, dessen Facetten in unterschiedlichen kulturellen Kontexten deutlich werden. Parallel zur jeweiligen Art, Mathematik zu betreiben, konnte dem Spiel eine jeweils eigene Funktionalität zugeordnet werden, ohne sein Prinzip zu verändern. Im Mitteleuropa des 11. und 12. Jahrhunderts hatten Zahlen zunächst keinen mathematischen Eigenwert im heutigen Sinne; sie waren nicht primär Rechengrößen. Daher diente das Zahlenkampfspiel anfangs nur der 4 Gewöhnung an die Proportionenlehre des Boethius und nicht der Einübung von Rechenfertigkeit. Effektive und ökonomische schriftliche Rechenmethoden im heutigen Sinne konnten sich wegen der ineffizienten Notation der römischen Zahlen noch nicht entwickeln. Deshalb war es auch weder sinnvoll noch üblich, das kleine Einmaleins auswendig zu lernen. Die Interpretation der Funktionalität des Spiels hat sich vermutlich schon im ausgehenden Mittelalter gewandelt, als die Proportionenlehre an Wichtigkeit verlor und die schriftliche Rechenfertigkeit an Stellenwert gewann, wie sich an Spielbrettdarstellungen mit arabischen Zahlen zeigt. 5 VORWORT Der vorliegende Text ist das durch Hinweise auf Quellen ergänzte Manuskript eines Vortrages, gehalten am 26.01.2005 im Gesprächskreis Mittelalter des Forum Mittelalter der Universität Regensburg (www.forum-mittelalter.org) und am 10.05.2005 im Mathematisch-physikalischen Kolloquium der Georg- Simon-Ohm-Fachhochschule Nürnberg (www.fh-nuernberg.de). Es werden keine tiefer gehenden mathematischen Konzepte vorausgesetzt. Eine moderne Ausgabe des Spiels mit ausführlicher Anleitung ist erhältlich bei der Holzspielwarenfabrik Heros in D-93460 Lam (www.heros-toys.de). Die Idee zu diesem Thema und viele kulturhistorische Anregungen, ohne die diese Untersuchung nicht entstanden wäre, verdanke ich Frau Prof. Dr. Edith Feistner, Universität Regensburg, die das Zahlenkampfspiel für Regensburg entdeckt hat. Alfred Holl Fachbereich Informatik, Georg-Simon-Ohm-Fachhochschule Nürnberg, Deutschland Matematiska och systemtekniska institutionen, Universität Växjö, Schweden Alfred.Holl@fh-nuernberg.de 6 7 INHALT 1. Einführung 9 1.1 Vorbemerkungen 9 1.2 Geschichte der Rithmomachie 10 1.3 Bezug Regensburgs zur Mathematik im Mittelalter 12 1.4 Die Sammlung des Regensburger Anonymus: Herkunft und Aufbau 14 1.4.1 Die Sammlung des Regensburger Anonymus: Herkunft 14 1.4.2 Die Sammlung des Regensburger Anonymus: Aufbau 15 2. Erläuterungen zur Rithmomachie anhand der Regensburger Fassung 16 2.1 Proportionen und Berechnung der Spielsteinwerte 16 2.1.1 Die fünf Proportionstypen nach Boethius, Nikomachos, Martianus Capella 18 2.1.2 Verkettung von Proportionen 19 2.1.3 Quadratische Pyramiden 23 2.2 Spielfeld, Aufstellung der Spielsteine, Spielzüge 23 2.2.1 Spielfeld 23 2.2.2 Spielsteine 23 2.2.3 Spielzüge 25 2.3 Schlagen 26 2.4 Siegbedingungen und Mittelwerte 28 3. Kulturgeschichtliche Diskussion: Wert und Zweck der Rithmomachie vom mittelalterlichen Schulbetrieb bis zur heutigen Informatik 31 3.1 Bedarf an Rechenmethoden und Bedeutung von Zahlen 32 3.2 Zahldarstellung 36 3.3 Multiplikationsmethoden und das kleine Einmaleins 38 3.4 Rhythmomachie oder Arithmomachie? 42 3.5 Schlussbemerkung 45 8 4. Bibliographie 48 4.1 Allgemeines 48 4.2 Rithmomachie 49 9 1. EINFÜHRUNG 1.1 Vorbemerkungen Ein vordergründiger Blick auf das Zahlenkampfspiel, die Rithmomachie, – multimedial, die mathematischen Möglichkeiten maximierend, Spielstrategien und Siegbedingungen kalkulierend – wird ihm nicht gerecht. Dieses Spiel eröffnet erst dann sein in ihm liegendes Erkenntnispotential und wird zu einem wirklich spannenden Forschungsgegenstand, wenn man sich auf dessen kulturhistorische Dimension einlässt. In diesem Vortrag wird nicht aus heutiger Perspektive gefragt: Wie wenig von dem, was wir heute in der Mathematik beherrschen, konnte man damals? Sondern die jeweilige Art, Mathematik zu betreiben, wird vielmehr als kultur- und bewusstseinsgeschichtliches Phänomen verstanden. Am Anfang des 11. Jahrhunderts schuf es die Voraussetzungen und Bedingungen, vor deren Hintergrund die Entstehung der Rithmomachie zu betrachten ist. Die Schreibweisen schwanken zwischen Rithmomachie und Rithmimachie, wobei zudem noch rh mit r und th mit t wechseln kann. Ein Grund dafür liegt in der auf den ersten Blick unklaren Etymologie, auf die ich später zu sprechen kommen werde (3.4). In der Einführung werde ich nur wenige enzyklopädische Daten nennen zur Geschichte der Rithmomachie zur Mathematik in Regensburg im Mittelalter und zur Sammlung des Regensburger Anonymus um anschließend im zweiten Teil das Zahlenkampfspiel mit seinem mathematischen Hintergrund anhand der Regensburger Fassung ausführlich zu besprechen. Im dritten Teil werde ich einen Blick auf den didaktischen Wert der Rithmomachie im Mittelalter werfen und untersuchen, was man damals mit ihr lernen wollte und konnte. Hierzu ist vor allem ihr Bezug zur Rechenfertigkeit zu thematisieren. Nun also zur Geschichte der Rithmomachie. 10 1.2 Geschichte der Rithmomachie Die Rithmomachie steht in der Tradition von De institutione arithmetica von Boethius (< 500), die eine lateinische Übersetzung der ’Aριθµητικ¾ ε„σαγωγή des Nikomachos von Gerasa darstellt (~100), die ihrerseits auf neupythagoreische Zahlenlehren zurückgeht (nicht: Zahlentheorie, wie man teilweise in der Literatur findet). Inwieweit die Tradition durchgängig bis Pythagoras selbst (ins 6. Jahrhundert v. Chr.) zurückreicht, ist nicht zu klären; in einzelnen Details, z.B. bei Mittelwerten, ist dies sicher der Fall. Ein erstes Spiel, das u.a. mit dem Namen Rithmomachie belegt wurde (ohne eine zu sein), tritt um 970 auf: Ein Würfelspiel (de alea oder alea regularis) des Bischofs Wibold von Cambrai (südlich von Lille in Nordfrankreich). Wie der Name schon sagt, handelte es sich um ein Würfelspiel; es zeigte Harmonien in Form von Tugenden auf (Folkerts 1989: 333). Manitius (1965: II 338, 340, 343) unterscheidet es leider nicht von der eigentlichen Rithmomachie. Auch wenn die Rithmomachie im Mittelalter stellenweise als das Spiel des Pythagoras, des Boethius oder des Gerbert (Papst Silvester II.) bezeichnet wird, liegt dessen Erfindung erst kurz nach der Jahrtausendwende und ist sogar recht gut datierbar (Folkerts 1989: 333). Nach Arno Borsts grundlegender Forschungsarbeit zur Rithmomachie 1986 (referiert von Folkerts 1989) liegt der Ausgangspunkt wohl in einem Wettkampf der Gelehrsamkeit zwischen den Domschulen von Worms und Würzburg um 1030 (Folkerts 1989: 335). In der Zeit des Domschulmeisters Pernulf (1022-1042) wurde die Abhandlung De aggregatione naturalium numerorum eines Würzburger Anonymus verbreitet (Edition 1895 von Maximilian Curtze aus dem Clm 14836 aus St. Emmeram, aber nicht dort geschrieben). Die Abhandlung enthält – in Fortführung von Überlegungen des Boethius – eine Formel zur Verkettung von Proportionen, auf die ich im zweiten Teil meines Vortrags (2.1.2) eingehen werde (Folkerts 1989: 334). Der älteste Zahlenkampftext beruht auf dieser Schrift (Folkerts 1989: 334). „Alle Abschriften davon bezeichnen als Erfinder des Spiels einen Würzburger Geistlichen quidam ex clero Wirciburgensi … Nur eine Handschrift [Codex Parisinus 7377 C] nennt in einem Zusatz seinen Namen: Asilo. Dieser könnte mit dem Domschüler Adalbero [Graf von Lambach] identisch sein, der später [1045, unter Kaiser Heinrich III.] Bischof von Würzburg wurde“ (Folkerts 1989: 335; Peiper 1880: 215). Die Person lässt sich aber leider nicht genauer identifizieren. 11 Abb. 1: Zeitliche Übersicht: Beschreibungen der Rithmomachie (Folkerts 1989: 336) 12 Für die Erfindung des Spiels im 11. Jahrhundert spricht auch, dass bis zum Ende des 12. Jahrhunderts noch Verbesserungen und Verfeinerungen am Regelapparat vorgenommen wurden: „Asilos Entwurf war noch nicht ausgereift; seine Angaben über Spielbrett, Felder, Aufstellung und Gangart der Steine sind noch undeutlich. Auch der Name Rithmimachie begegnet noch nicht; das Spiel wird vielmehr als conflictus oder altercatio bezeichnet“ (Folkerts 1989: 335). In der zeitlichen Übersicht (Abb. 1) sehen wir zunächst Bearbeitungen des Spiels aus Süddeutschland: u.a. von Hermann Contractus von Reichenau um 1040 und von einem Regensburger Anonymus (RA) um 1090, der uns hier interessiert. „War es ursprünglich im süddeutschen Raum beheimatet und daneben auch im französisch-belgischen Gebiet bekannt, so lassen sich seit dem 13. Jahrhundert viele Bearbeitungen aus dem französischen und vor allem dem englischen Raum nachweisen. Im 14. und 15. Jahrhundert wird England zum Zentrum der Rithmimachie. Aus der frühen Neuzeit gibt es gedruckte Fassungen, die von italienischen, französischen und deutschen Bearbeitern stammen“ (Folkerts 1989: 333). Die erste deutschsprachige Fassung stammt von Abraham Riese, dem Sohn uploads/Litterature/ rapporter-fra-n-va-xjo-universitet-matematik-naturvetenskap-och-teknik-nr-3-holl-alfred-spiel-mit-zahlen-kampf-mit-zahlen-das-mittelalterliche-zahlenkampfspiel-rithmomachie-in-seiner-regensburger-fa.pdf
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