1 ABITURPRÜFUNG DEUTSCH 2004 Redakteur: Winfried Bös AUFGABE I Interpretationsa

1 ABITURPRÜFUNG DEUTSCH 2004 Redakteur: Winfried Bös AUFGABE I Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre (Werk im Kontext) Thema: Friedrich Schiller (1759 — 1805), Kabale und Liebe Theodor Fontane (1819 — 1898), Effi Briest Friedrich Schiller, Kabale und Liebe, IV,4 FERDINAND, nach einem langen Stillschweigen, worin seine 5 Züge einen schrecklichen Gedanken entwickeln. FERDINAND. Verloren! Ja Unglückselige! — Ich bin es. Du bist es auch. Ja bei dem großen Gott! Wenn ich verloren bin, bist du es auch! - Richter der Welt! Fordre sie mir nicht ab. Das Mädchen ist mein. Ich trat dir deine ganze 10 Welt für das Mädchen ab, habe Verzicht getan auf deine ganze herrliche Schöpfung. Lass mir das Mädchen. - Richter der Welt! Dort winseln Millionen Seelen nach dir - Dorthin kehre das Aug deines Erbarmens - mich lass allein machen, Richter der Welt! (Indem er schrecklich die 15 Hände faltet.) Sollte der reiche vermögende Schöpfer mit einer Seele geizen, die noch dazu die schlechteste seiner Schöpfung ist? - Das Mädchen ist mein! Ich einst ihr Gott, jetzt ihr Teufel! (Die Augen gross in einen Winkel ge- worfen.) Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad der Verdamm- 20 nis geflochten - Augen in Augen wurzelnd - Haare zu Berge stehend gegen Haare - Auch unser hohles Wim- mern in eins geschmolzen - Und jetzt zu wiederholen meine Zärtlichkeiten, und jetzt ihr vorzusingen ihre Schwüre - Gott! Gott! Die Vermählung ist fürchterlich - 25 aber ewig! (Er will schnell hinaus. Der Präsident tritt herein.) 2 Aufgabenstellung: - Fassen Sie das zum Verständnis dieser Szene Wesentliche aus der vorangegangenen Handlung zusammen. - Untersuchen Sie, was in Ferdinand vorgeht, und analysieren Sie die sprachlich- gestische Gestaltung der Szene. Schillers „Kabale und Liebe” und Fontanes „Effi Briest”: - Erklären und vergleichen Sie die Reaktion Ferdinands auf Luises vermeintliche Untreue und die Reaktion Innstettens auf Effis Treuebruch. AUFGABE II Gestaltende Interpretation Thema: Theodor Fontane (1819-1898), Effi Briest, Kap.36 (Auszug) Und ehe die Uhr noch einsetzte, stieg Frau von Briest die Treppe hinauf und trat bei Effi ein. Das Fenster stand auf und sie lag auf einer Chaise- longue, die neben dem Fenster stand. Frau von Briest schob einen kleinen schwarzen Stuhl mit drei goldenen Stäbchen in der Ebenholzlehne heran, nahm Effis Hand und sagte: 5 »Wie geht es dir, Effi? Roswitha sagt, du seiest so fiebrig.« »Ach, Roswitha nimmt alles so ängstlich. Ich sah ihr an, sie glaubt, ich ster- be. Nun, ich weiß nicht. Aber sie denkt, es soll es jeder so ängstlich nehmen wie sie selbst.« »Bist du so ruhig über Sterben, liebe Effi?« 10 »Ganz ruhig, Mama.« »Täuschst du dich darin nicht? Alles hängt am Leben und die Jugend erst recht. Und du bist noch so jung, liebe Effi.« Effi schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Du weißt, ich habe nicht viel gelesen und Innstetten wunderte sich oft darüber und es war ihm nicht 15 recht.« Es war das erste Mal, dass sie Innstettens Namen nannte, was einen großen Eindruck auf die Mama machte und dieser klar zeigte, dass es zu Ende sei. »Aber ich glaube«, nahm Frau von Briest das Wort, »du wolltest mir was 20 erzählen.« »Ja, das wollte ich, weil du davon sprachst, ich sei noch so jung. Freilich bin ich noch jung. Aber das schadet nichts. Es war noch in glücklichen Tagen, 3 da las mir Innstetten abends vor; er hatte sehr gute Bücher und in einem hieß es: Es sei wer von einer fröhlichen Tafel abgerufen worden und 25 am andern Tage habe der Abgerufene gefragt, wie's denn nachher gewe- sen sei. Da habe man ihm geantwortet: >Ach, es war noch allerlei; aber eigentlich haben Sie nichts versäumt.< Sieh, Mama, diese Worte haben sich mir eingeprägt – es hat nicht viel zu bedeuten, wenn man von der Tafel etwas früher abgerufen wird.« 30 Frau von Briest schwieg. Effi aber schob sich etwas höher hinauf und sagte dann: »Und da ich nun mal von alten Zeiten und auch von Innstetten ge- sprochen habe, muss ich dir doch noch etwas sagen, liebe Mama.« »Du regst dich auf, Effi.« »Nein, nein; etwas von der Seele heruntersprechen, das regt mich nicht 35 auf, das macht still. Und da wollt ich dir denn sagen: ich sterbe mit Gott und Menschen versöhnt, auch versöhnt mit ihm.« »Warst du denn in deiner Seele in so großer Bitterkeit mit ihm? Eigent- lich, verzeih mir, meine liebe Effi, dass ich das jetzt noch sage, eigent- lich hast du doch euer Leid heraufbeschworen. « 40 Effi nickte. »Ja, Mama. Und traurig, dass es so ist. Aber als dann all das Schreckliche kam und zuletzt das mit Annie, du weißt schon, da hab' ich doch, wenn ich das lächerliche Wort gebrauchen darf, den Spieß umgekehrt und habe mich ganz ernsthaft in den Gedanken hineinge- lebt, er sei schuld, weil er nüchtern und berechnend gewesen sei und 45 zuletzt auch noch grausam. Und da sind Verwünschungen gegen ihn über meine Lippen gekommen.« »Und das bedrückt dich jetzt?« »Ja. Und es liegt mir daran, dass er erfährt, wie mir hier in meinen Krankheitstagen, die doch fast meine schönsten gewesen sind, wie 50 mir hier klar geworden, dass er in allem recht gehandelt. In der Ge- schichte mit dem armen Crampas — ja, was sollt' er am Ende anders tun? Und dann, womit er mich am tiefsten verletzte, dass er mein ei- gen Kind in einer Art Abwehr gegen mich erzogen hat, so hart es mir ankommt und so weh es mir tut, er hat auch darin Recht gehabt. 55 Lass ihn das wissen, dass ich in dieser Überzeugung gestorben bin. Es wird ihn trösten, aufrichten, vielleicht versöhnen. Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist.« 4 Aufgabenstellung: - Skizzieren Sie die Situation, in der dieses Gespräch stattfindet, und erklären Sie Effis Haltung. - Gehen Sie von folgender Annahme aus: Einige Zeit nach Effis Tod verfasst Frau von Briest einen Brief an Baron von Innstetten. Sie setzt sich darin offen mit der Persönlichkeit ihrer Tochter und dem Scheitern der Ehe auseinander. Schreiben Sie diesen Brief. AUFGABE III Literarische Erörterung Thema: „Die Welt ist einmal, wie sie ist, und die Dinge verlaufen nicht, wie wir wollen, sondern wie die andern wollen.” (Wüllersdorf, Kap.27) Zitat aus: Theodor Fontane (1819-1898), Effi Briest Aufgabenstellung: Erörtern Sie, ausgehend von Wüllersdorfs Aussage, das Verhältnis von Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Konvention an literarischen Werken Ihrer Wahl. 5 AUFGABE IV Interpretationsaufsatz zu einem Gedicht oder Gedichtvergleich Thema: Mascha Kaleko (1912 - 1975), Emigranten - Monolog (1945) Emigranten - Monolog Ich hatte einst ein schönes Vaterland – So sang schon der Flüchtling Heine. Das seine stand am Rheine, Das meine auf märkischem Sand. Wir alle hatten einst ein (siehe oben !) 5 Das fraß die Pest, das ist im Sturm zerstoben. O Röslein auf der Heide, Dich brach die Kraftdurchfreude. Die Nachtigallen werden stumm, Sahn sich nach sicherm Wohnsitz um. 10 Und nur die Geier schreien Hoch über Gräberreihen. Das wird nie wieder, wie es war, Wenn es auch anders wird. Auch, wenn das liebe Glöcklein tönt, 15 Auch wenn kein Schwert mehr klirrt. Mir ist zuweilen so, als ob Das Herz in mir zerbrach. Ich habe manchmal Heimweh. Ich weiß nur nicht, wonach ... 20 Erklärungen:, V.1: „Ich hatte einst ein schönes Vaterland”: Erster Vers von Heines Gedicht „In der Fremde III” V.7: „... Röslein auf der Heide”: Anspielung auf Goethes Gedicht „Heidenröslein” mit dem Refrain: „Röslein auf der Heiden”. Darin bricht ein Knabe eine kleine Rose gewaltsam. V.8: „... Kraftdurchfreude”: eigentlich „Kraft durch Freude”; von den Nationalsozialisten geschaffene, politisch organisierte Freizeitgestaltung Aufgabenstellung: Interpretieren Sie das Gedicht. 6 AUFGABE V Analyse und Erörterung nicht fiktionaler Texte (auch mit gestalterischer Teilaufgabe) hier: Erörterung Thema: Ulrich Beer, Autorität' in: chrismon - Das evangelische Magazin, 5/2002 „Tante, müssen wir heute wieder, tun, was wir wollen?”, fragte ein Mädchen in einem Hamburger Kinderladen die Erzieherin. Verständlich, dass die verdutzt dreinschaute. Denn mit dem Konzept antiautoritärer Erziehung verträgt sich eine solche Frage schlecht. Danach soll der Mensch sich selbst verwirklichen und selbst bestimmen. Und um das zu lernen, muss' ein Kind tun dürfen, was es will. Doch damit dreht sich 5 die antiautoritäre Erziehung im Kreise, denn der Mensch kann seine Lebensziele nicht nur aus sich heraus entwickeln. Sonst wäre er dem Drängen seiner Triebe und der Macht seiner Wünsche ausgeliefert. Braucht er darum nicht Grenzen? Dies scheint das pädagogische Thema zu sein, das die Eltern heute am meisten bewegt. Ja, der Mensch, vor allem das Kind, braucht 10 Grenzen, aber noch nötiger braucht es Ziele, Inhalte, Werte. Sie werden vor allem durch Liebe, Nähe und Vorbild vermittelt. Autorität hat nicht der, der etwas zu verbieten hat, sondern der, der etwas zu bieten hat: Darum ist nicht nur der Vater Autoritätsperson, sondern die Mutter scheint noch wichtiger zu sein. Aus amerikanischen Untersuchungen über Familienmilieu und 15 Jugendkriminalität ist bekannt, dass dabei überstrenge Väter und autoritätsschwache Mütter eine unselige Rolle spielen. Auch die Pisa-Bildungsstudie beklagt verbreitete Gleichgültigkeit, das Fehlen von Nähe und Autorität bei heutigen Eltern. Es uploads/Litterature/ abiturprufung-deutsch-2004.pdf

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