1 Bernhard Streck Roma und andere Zigeuner 1.Ein Problem der Mehrheitsgesellsch
1 Bernhard Streck Roma und andere Zigeuner 1.Ein Problem der Mehrheitsgesellschaft Der Schweizer Psychoanalytiker Franz Maciejewski schrieb 1994, moderne Gesellschaften litten unter zwei internen Problemen: Das eine verkörperten die Juden, weil sie dem Fortschritt vorauseil- ten, und das andere die Zigeuner, weil sie diesem hinterher hinkten. Von solchen „unheimlichen“ Nachzüglern im Prozess der Zivilisation ist im Folgenden die Rede. Auch wenn Zigeuner immer wie- der als ethnische Gruppe verstanden wurden und der Namen Roma heute eine transnationale Min- derheitenbewegung schmückt, liegt in der folgenden Darstellung der Schwerpunkt auf sozialem Nonkonformismus. In diesem Sinne wurde der wohl aus dem Lateinischen (cingari) übertragene Be- griff „Zigeuner“ in die deutsche Schriftkultur eingeführt, als im Übergang von Mittelalter und Früher Neuzeit unangepasste und fremd wirkende Kleingruppen den Chronisten zum ersten Mal auffielen. Der auch in Italien gebräuchliche Sammelname cingari erinnert an das arabische samkeri, mit dem im Vorderen Orient noch heute mobile Blechschmiede benannt werden. Andere Sprachen verwenden Sammelnamen, die mit Ägypten als Herkunftsland zusammenhängen – z.B. das Englische (gypsies), das Spanische (gitanos), das Griechische (gofti), das T ürkische (kapti) etc. – oder die mit einer byzantinischen Sekte namens Athinganoi in Verbindung gebracht werden wie das Französische (tsigan), das Ungarische (cigányok) oder wieder das T ürkische (cingene). Im Nahen und Mittleren Osten benennt die jeweilige Mehrheitsgesellschaft ihre Zigeunergruppen mit ganz anderen Sammelbezeichnungen: Ghajar in Ägypten, Halab im Sudan, Nawar in Syrien, Hitêm und Slêb in Arabien, Zutût am Golf, Jât in Persien, Kurbât in Afghanistan, Luli in Mittelasien. In Indien gibt es Qalandar und Kela als Oberbegriffe für die unzähligen „nicht Nahrungsmittel produzierenden“, mobilen Kleingruppen. Immer sind es Etiketten der Nichtzigeuner, die allerdings bei Bedarf auch von Zigeunern benutzt werden, obwohl diese in der Regel für den internen Ge- brauch ganz andere und oft geheim gehaltene Bezeichnungen haben. In Frankreich ist als Fremdbezeichnung Bohémiens (Böhmen) und als Selbstbezeichnung Romanit- schel (Romani-Volk) früher gebräuchlich gewesen. In der Romani-Sprache bezeichnet Rom/Romni Verheiratete. Zigeuner, die kein Romani sprechen, verstehen unter Roma die Hauptstadt Italiens. Schon die deutschen Sinti haben sich erfolgreich geweigert, unter das politische Dach der Roma-Be- wegung vereinnahmt zu werden. Viele Zigeuner in anderen Weltteilen wissen nicht, dass es dieses Dach gibt, und verfolgen ihre eigenen Wege der Überlebenssicherung. Allein diese Lebensweise, die sich in gemessenem Abstand zur modernen Arbeits- und Leistungsgesellschaft entwickelt hat und sich auch weiterentwickeln wird, rechtfertigt den alten Sammelbegriff Zigeuner. Er muss ethnisch, sprachlich und historisch unbestimmt bleiben, weil die verschiedenen Gruppen des kulturellen Dissi- dententums keine gemeinsame Herkunft oder Geschichte haben. Ob ihre oft schwierige Lage am Rande der jeweiligen Mehrheitsgesellschaften sich durch eine zentrale politische Vertretung bessern kann, muss offen bleiben. Deren Konsequenz, dass dann Romani-Sprecher andere Zigeunergruppen majorisieren oder gar manipulieren, lässt wenig Optimismus aufkommen. …Aus diesem Grunde wird hier ein eher sozialer als ethnischer Zigeunerbegriff verwendet. Er stellt eine wissenschaftlich begründete Alternative dar zu den beiden Programmen, die das Thema Roma/Zigeuner gerne für sich vereinnahmen: die schon genannte Roma-Politik, die mit der Kon- struktion von indischer Herkunft und weltweiter Diaspora arbeitet, und die Zigeuner-Mission, die über die Konstruktion eines verlorenen Judenstammes Anschluß an die heilsgeschichtliche Auser- wähltheit verspricht. Beides sind Verstetigungsprogramme und wirken attraktiv auf Zigeuner, die an Modernisierung ihrer Sonderrolle interessiert sind. Worin diese aber besteht, lässt sich nur aus einer ethnologischen Perspektive verständlich machen. Diese arbeitet mit sozialwissenschaftlicher Mikro- skopie – es werden im Folgenden ethnographische Einzelstudien herangezogen – und mit Perspekti- venwechsel: Zigeuner und Nichtzigeuner können nur in ihrer Wechselbeziehung begriffen werden, weil sie sich gegenseitig bedingen und ihr asymmetrisches Verhältnis zu den Wesensmerkmalen moderner Gesellschaften gehört. Ältere Gesellschaften, die wegen ihrer Nichtintegration, bzw. Zusammengesetztheit auch Komple- xe Gesellschaften genannt werden, können auch Zigeunerfamilien einschließen. Diese fallen aber nicht weiter auf, da die einzelnen Gemeinschaften dort ohnehin „Rücken an Rücken“ wohnen und es kein gemeinsames Ziel gibt. Im ältesten Gesellschaftstyp, der Stammesgesellschaft oder gar der Horde schließlich gibt es keine Zigeuner. Es fehlen dort sowohl die berufliche Arbeitsteilung für Ni- schenwirtschaftler (s. Kap. 5) wie auch die innere Sicherheit für „Berufsfremde“. Zigeuner als Problem wurden von der modernen Gesellschaft geschaffen, weil diese bei allen Be- kenntnissen zu Offenheit und T oleranz einen rigorosen Konformitätszwang ausübt. Dazu gehört auch 1 2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 2 der Zwang zur Offenheit, den viele Dissidenten und Immigranten ablehnen, weil sie lieber geschlos- sene Gesellschaften oder besser Gemeinschaften bleiben wollen. Diese Unversöhnlichkeit zwischen Offener und Geschlossener Ordnung schlägt sich in den Stereotypen nieder, mit denen sich Zigeu- ner und Nichtzigeuner gegenseitig abschirmen. Aus dem warmen Nest heraus sieht die Welt drau- ßen nach sozialer Kälte aus. Der zum Individualismus erzogene Moderne empfindet Nähe und Ver- pflichtungen in der Kleingruppe als zwanghaft. Es sind aber nicht nur kategoriale Wahrnehmungen und Vorurteile, die Mehrheit und Minderheit trennen. Das mag auf interethnische Verhältnisse wie die zwischen Deutschen und Sorben oder zwi- schen Deutschschweizer und Welschschweizer zutreffen. Zigeuner sind im Gegensatz zu Grenzen in- nerhalb des bürgerlichen Lagers wirkliche, absichtliche und bewusste Dissidenten. Sie halten an ih- rer segmentären, dezentralen Binnenordnung mit deutlicher Priorität von Verwandtschaft und Para- Verwandtschaft fest, auch wenn die Umgebung längst in festen Funktionshierarchien und unverbind- lichem Individualismus erstarrt zu sein scheint. Sie üben sich in einer räumlichen und konzeptionel- len Flexibilität, die allen bürokratischen (und statistischen) Festschreibungen Hohn spricht, und sie behalten sich das Recht der Geheimniskrämerei vor, die mit den Prinzipien von Öffentlichkeit und Wissenschaftlichkeit unvereinbar ist. Mehr lässt sich an Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Zi- geunergruppen in den verschiedenen Weltteilen nicht finden, doch reichen diese aus, in den meis- ten heutigen Großgesellschaften vergleichbare Irritationen auszulösen. Die moderne Gesellschaft ist von sich und ihrem „richtigen“ Weg derart überzeugt, dass sie wirk- lich andere Lebensweisen nicht tolerieren kann. Wer die zentralen Werte der heute „Zivilgesell- schaft“ genannten bürgerlichen Ordnung nicht teilen möchte, wird rasch zum Ärgernis und zwingt die Behörden zum Handeln. Die heute gültigen Fortschrittsparameter, nach denen sich jeder Mitbür- ger einzurichten hat, betreffen Arbeit, Wohnung, Bildung und Gesundheit. Zigeuner können oder wollen, selbst wenn sie reich sind, hier oft nicht mithalten. Der Glaube an diese vier Säulen des Fort- schritts wird bekanntlich in der Schule vermittelt. Viele Sinti-Familien haben ihre frühere Abneigung gegen die Umformung ihrer Kinder nach dem Bild der Gadsche (Nichtzigeuner) längst überwunden und halten sich an die Schulpflicht. T rotzdem teilen sie die Identifizierung von Kindheit und Schulbil- dung, wie sie in der Mehrheitsgesellschaft vorherrscht, nicht. „Auf Einser und Zweier in der Schule legen wir keinen Wert, die Hauptsache, die Kinder lernen lesen, rechnen und schreiben, das reicht, um das Gewerbe weiterzumachen, alles weitere ist überflüssig,“ sagte eine Sinta in Frankfurt am Main zur Giessener T siganologin Edith Gerth (1983). Kultur ist eine Wertegemeinschaft, die abweichende Wertungen nur bis zu einem bestimmten Grad duldet. Eine Arbeits- und Leistungsgesellschaft erwartet von allen ihren Mitgliedern Aufstiegs- orientierung. „Unser Kind soll es einmal besser haben als wir“ war das Motto auf dem Weg zum heu- tigen Wohlstand. Auch viele Sinti-Familien konnten – in gewissem Abstand – an diesem Aufschwung der Nachkriegszeit teilhaben, obwohl sie zu den staatsbürgerlichen Pflichten wie Schulzwang, Mili- tärdienst, Karriere, Steuerpflicht und Gesetzestreue oft eine andere Einstellung hatten. Wer das al- lein auf die katastrophalen Ereignisse der NS-Zeit und des II. Weltkriegs oder die oft schleppende Wiedergutmachung zurückführen will, verkennt die Autonomie, die Zigeuner in allen gesellschaftli- chen Kontexten zu bewahren wissen. Das Problem des Wohlfahrtsstaats ist, dass es Familien gibt, die sich nur selektiv in das filigrane Gefüge von Rechten und Pflichten einpassen. Zigeuner behalten sich das Recht vor, auszuwählen, wo sie mit der Mehrheitsgesellschaft und deren Fortschritt mitziehen und wo nicht. Damit werden sie zu einem Unsicherheitsfaktor, der noch unsicherer wird, wenn man die Flexibilität dieser Distanz berücksichtigt. Heute wird Nähe gesucht und morgen kehrt man sich wieder ab. Die Südtiroler Sinti leben von den deutschsprachigen Bauern, ziehen aber die Italiener den „Hitlari“ vor (T auber 2003). Sympathie und Antipathie sind in diesem Verhältnis immer situationsbezogen. Im Alltag sucht man geschäftliche Kontakte, am Festtag hält man Distanz, in der Krise wie Geburt, Krankheit, Gericht oder T od verschmelzen Zigeuner mit der Mehrheitsgesellschaft. Nähe und Ferne, Vertrauen und Misstrauen, freundliche Beziehungen und Fremdenangst unterliegen einem Rhythmus, der jede Festschreibung und Zuordnung verbietet. Zigeuner sind immer T eil ihres Umfeldes; früher nannte man das „Wirtsvolk“; vielleicht sollte man besser von „Muttergesellschaft“ sprechen, weil die „T och- tergesellschaft“ – also die Subkultur der Zigeunergruppen – sich eine bald gehorsam, bald aufsässig erscheinende Beziehung von Asymmetrie leistet. Sinti in Südtirol nennen es manghel, wenn die Frauen morgens losziehen, um in den Dörfern der Gadsche (Nichtzigeuner) ihr Glück zu suchen. Sie bieten Hausiererware an, betteln um Geldbeträge oder preisen ihre Wahrsagekunst an. Häuser, in denen sie abgewiesen werden, gelten als schlecht und können verflucht werden. Bäurinnen, die „ein Herz zeigen“, werden freundlich erinnert und es kann zu einer Art Stammkundenschaft kommen. Doch uploads/Litterature/ streck-zigeuner.pdf
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- Publié le Nov 15, 2021
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