Fundamenta Psychiatrica © F. K. Schattauer Verlagsgesellschaft mbH (1993) Origi
Fundamenta Psychiatrica © F. K. Schattauer Verlagsgesellschaft mbH (1993) Originalarbeit U. Kobbe Aus dem Westfälischen Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt (Leiter: Dr. med. H. Duncker) Zur Dialektik operationaler Diagnostik Antithesen aus der forensischen Psychiatrie* Wissenschaftliche Begriffe haben ... eine eigene Entstehungsgeschichte, die in den gesellschaftlichen Prozeß eingebet- tet ist. Foucault hat dies für die Psychia- trie, die medizinische Klinik, die Sexual- wissenschaft gezeigt« (70, S. 85). Vorbemerkung Der Ton der Direktheit ermöglicht, pointierte Fragen zu stellen, die der ob- jektivierende wissenschaftliche Diskurs nicht mehr zuläßt: So wird im folgenden die Position des >advocatus diuboli« eingenommen, um den >horror vacui< postmoderner Diagnostik am Beispiel der forensischen Psychiatrie zu konter- karieren, in der sich einzelne Probleme akzentuierter aufzeigen lassen. Insofern zielt die Arbeit nicht auf die Aufhebung von Antinomien durch Synthese ab, sondern es wird versucht, die Thematik provokant für neue Antworten offenzu- halten. »Nichts ist gefährlicher als das Dogma (die Synthese), denn es ver- sperrt jeden Weg«, haben doch These und Antithese »auf beiden Seiten der Grenze Geltung« (5, S. 21). Überarbeiteter Vortrag auf der 6. Forensi- schen Herbsttagung am 25726. 11. 91 in München. Lyotard schreibt eine Anmerkung Freuds (15, S. 64) wie folgt um: »Man kann sich doch einem Gedanken hingeben3 [ge- braucht in den Wendungen: sich Vergnü- gungen oder Ausschweifungen hingeben], ihn verfolgen, soweit er führt, nur aus wis- senschaftlicher Neugierde6 [die Gier (desir) nach Neuem und Neuigkeiten] oder, wenn man will, als advocatus diaboli, der sich doch nicht dem Teufel selbst verschreibt« (36, S. 74). a im Original deutsch: Hinzufügungen in [] von Lyotard. Schlüsselwörter Operationale Diagnostik, Postmoderne, forensische Psychiatrie, wissenschaft- licher Diskurs Zusammenfassung Anhand der Einführung des DSM in der forensischen Psychiatrie werden kriti- sche Aspekte der postmodernen Implantierung und Anwendung operationaler Diagnosesysteme exemplifiziert. Die generierten Antithesen beziehen sich auf das mutierte Bild vom psychisch kranken Rechtsbrecher im Maßregelvollzug, das evakuierte (tiefen)psychologische Verständnis, auf die scheinbar gebannte Infektionsgefahr des Bösen sowie auf unzureichende therapeutische Handlungs- anweisungen. Der Einfluß formaler Entscheidungsbäume bewirkt eine proble- matische Entmachtung des bisherigen wissenschatlichen Diskurses, d. h. algo- rithmische Veränderungen diagnostischer Begriffe bzw. therapeutischer Aussa- gen. Hinsichtlich des Patienten werden mystifizierende Auswirkungen auf des- sen Selbstbild wie therapeutische Notwendigkeiten der Entpathologisierung de- struktiver Attribuierungen beschrieben. Insgesamt wird ein postmoderner Trend zu diagnostischen Simulakren angenommen, die - analog der Kritik von Finzen - den Blick auf den Zusammenhang von Medizin und Justiz, von Diagnose und Urteil verstellen. Keywords Operational diagnosis, postmodernism, forensic psychiatry, scientific discourse Summary The author outlines postmodernistic introduction and application of DSM-diagno- ses in institutions of forensic psychiatry to exemplify critical aspects of operatio- nal diagnostic Systems. He demonstrates by antitheses the mutated idea of mentally ill delinquents in mandatory commitment, the evacuated psychodyna- mic comprehension, the appearingly banned infectious danger of the evil äs well äs the insufficient therapeutic instruction by operational diagnostic. He describes the problematical algorithmic influence on the scientific discourse which results in changed diagnostic and therapeutic significations. Patients experience sustains defensive delineations and becomes mutilated by mystificationing dia- gnoses which require therapeutic demystifications of destructive attributations. Altogether a postmodernistic trend toward diagnostic simulacrums can be sup- posed: these »illusions of Solutions« bar - in analogy to Finzens critique of post- modern psychiatry (15) - the regard on the context of medicine and justice, of dia- gnosis and judgment. Einleitung In den letzten Jahren etablierten sich parallel zur herkömmlichen psychiatri- schen Diagnosestellung mit ICD-Stan- dards fast undiskutiert operationali- sierende Diagnose-, Dokumentations- und Klassifikationssysteme, so das DSM-III-R (68); kritische Ausnahmen sind u. a. Rösler (53), Glatzel (17), insbesondere Kraus (30). Nunmehr schwappen diese Ansätze des DSM wie Fundamenta Psychiatrica 1993; 7:123-8 21/123 Originalarbeit des Forensisch-Psychiatrischen Doku- mentationssystems FPDS (18, 43, 44, 53) aus den Bereichen epidemiologi- scher Forschung und Begutachtung auch in die forensische Psychiatrie über. »Vorweg muß jedoch daran erinnert werden, daß der Terminus >Diagnose< einen ganz besonderen Sinn hat. Wie sei- ne Etymologie zeigt, hat (er) nicht nur den Sinn von »bezeichnen« oder >identi- fizieren<, sondern ganz spezifisch den von > entscheiden, 'unterscheiden', >dif- ferenzieren< (...). Daraus folgt, daß der Ausdruck >Differentialdiagnose< ein Pleonasmus ist« (10, S. 277 ff.). Angesichts verobjektivierender dif- ferentialdiagnostischer Systeme auch im Umgang mit psychisch kranken Rechtsbrechern gewinnt die Forderung Kaminskis (25, S. 5) Aktualität, »jede Psychologie müßte sich mindestens auch dieses fragen: ob ihr homo psycho- logicus lebensfähig wäre, ob er Gesell- schaft entwickeln könnte, ob er Psycho- logie hervorzubringen und anzuwenden imstande wäre«. Neue (Signifikations-) Verhältnisse »Ich werde auch das Ganze: der Spra- che und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das >Sprachspiel< nennen (69, S. 101). - »Es gibt viele >Sprach- spiele< - ich ziehe es vor, >Diskursgen- res< zu sagen« (38. S. 158). Phänomenologisch fällt zunächst auf, daß DSM-Kategorien (angloamerikani- sche) konstative Neologismen etablie- ren, neue Signifikanten schaffen (»hi- strionische Persönlichkeit«, »Major De- pression« usw.). Hierzu skizziert Witt- genstein (69), daß »Benennen« und »Beschreiben« nicht »auf einer Ebene« stehen: das reine Benennen durch neue Signifikanten sei »noch gar kein Zug im Sprachspiel, - so wenig wie das Auf- stellen einer Schachfigur ein Zug im Schachspiel. Man kann sagen: Mit dem Benennen eines Dings ist noch nichts getan« (69, S. 128). Insofern erscheint die Erfindung neuer Begriffe, anderer Signifikanten eher als Zeichen einer Krise der Wissenschaft (17). Immerhin merken Deleuze und Guattari (7. S. 275) an, »die Zerstörung des alten Codes, das neue Signifikationsverhält- nis, die Notwendigkeit dieses in der Übercodierung begründeten Verhält- nisses verweisen die Bezeichnungen auf das Beliebige (oder aber sie lassen diese als fortdauernde Bausteine des alten Systems bestehen).« Es finde sich ein »Imperialismus des Signifikanten«, der gerade in der foren- sischen Psychiatrie der despotischen Ordnung des Gesetzes entspricht und mit ihr Teil hat »an derselben bald offe- nen, bald versperrten Frage, an der fortgeführten Abstraktion, dieser Ver- drängungsmaschinerie, die uns stets von den Wunschmaschinen entfernt« (7, S. 174). Insofern verstellen derartige Diagnosesysteme als postmoderne Si- mulakren2 den Blick auf den rhizomor- phen3 Zusammenhang von Medizin und Justiz, von Diagnose und Urteil. Auf diese Tendenz der bedenkenlosen Um- etikettierung, die als »Scheinlösungen postmodernen Denkens (...) die Per- spektiven verstellen«, wies bereits Fin- zen (13, S. 40) hin. Wissenschaften in der Postmoderne Mithin erfolgt nach Meinung des Verfassers innerhalb der wissenschaftli- chen Sprachspiele keineswegs eine neue Argumentation, sondern vielmehr die Mutation des Spiels durch die Erfin- dung neuer (algorithmischer) Regeln (36, S. 128). Algorithmen beinhalten Frage-Antwort-(F-A-)Spiele, für die die Oberflächengrammatik des Fragens irrelevant geworden ist: Sie operieren mit »Satzradikalen« (22, 69), die den diagnostischen Frageraum neu konsti- tuieren und so den bisherigen wissen- schaftlichen Diskurs entmachten. Jäger (22, S. 116) führt in diesem Zusammen- hang das Thema der Vergewaltigung des (Untersuchungs-)Gegenstandes durch die Modifizierung der Methoden ein: Man müsse »einem Methodenver- Simulakrum = Trugbild, Blendwerk, Fassa- de, Schein; von lat. simulacrum: Bild, Abbild, Bildnis, Nachbildung, Gebilde, Statue, Götterbild, Bildsäule, Traumbild, Schatten, Gespenst (3) Rhizom = System von »Wurzeln«, die sich von einer Hauptwurzel unabhängig supple- mentär und »chaotisch« verästeln, ausbrei- ten, verdichten (8) ständnis vorbeugen, welches sich in der Logik der Methode so einseitig orien- tiert, daß es für nichtlogische Methoden blind wird oder sie entstellt oder gar verbietet«: zweitens müsse »man einem Verständnis der wissenschaftlichen Re- volution vorbeugen, welches die revolu- tionären F-A-Ketten auf algorithmi- sche Prozesse reduziert« (22, S. 120). Gemeinsam mit formal-algorithmi- schen Entscheidungsbäumen und der hierdurch bewirkten Vervielfältigung des Aufmerksamkeitsfokus greifen die neuen Signifikanten als Mutationslinien und Vektoren auf eine Art und Weise in das medicojuristische Feld therapeu- tischer Dispositive, repressiver Kräfte, intra- wie interindividueller Widerstän- de und kollektiver Prozesse ein, die den Wert eines diagnostischen Begriffes oder einer therapeutischen Aussage verändern muß (6, 52). Diagnostische »Behandlungen« Was nun bewirken diese differentiel- len Diagnosen und ihre Komplexität in der Institution des Maßregelvollzugs und beim betroffenen Patienten? Fou- coult (14) beschreibt die Tatsache, daß im Zuge der Schaffung neuer Strafsy- steme die sogenannten »peinlichen Strafen«, die »Leibesmarter« und so auch »der gemarterte, zerstückelte, ver- stümmelte, ... gebrandmarkte, lebendig oder tot ausgestellte, zum Spektakel dargebotene Körper« verschwanden. Änliches beschreibt Jetter (23) für die Ablösung körperlicher Behandlungs- methoden durch ein >traitement moral et philosophique< (Pinel): An die Stelle des Körpers als Ziel staatlicher Repres- sion tritt bei Mördern wie Narren die Seele, die Gefängnis des Körpers ist und auf deren Manipulation die Strafe nunmehr abzielt. »Letztlich ging es nicht um den allzu veralteten oder allzu aseptischen, allzu kargen oder allzu per- fektionierten Rahmen des Gefängnis- ses, sondern um ... jene ganze Techno- logie der Macht über den Körper, die von der >Technologie der Seele< ... we- der maskiert noch kompensiert werden kann, da sie ja nur eines ihrer Instru- mente ist« (14, S. 43). In diesem Kontext also kommt eine wissenschaftliche Diagnostik und Klas- sifikation auf, die sich unter dem 22/124 Fundamenta Psvchiatrica Kobbe: Zur Dialektik operationaler Diagnostik Aspekt der Hilfe eben dieser kranken Verbrecherseele zergliedernd an- nimmt, insofern die Mißhandlung der Gliedmaßen quasi psychochirurgisch und anscheinend schmerzfrei substitu- iert. Der diagnostische Blick »ist ein Zere- moniell der Kontrolle, der Kontrolle des Geistes, des Körpers und des Betragens, und immer ist es neben allem anderen eine Kontrolle um der bloßen Kontrolle willen, der verstärkten, perfekten, totalen Kontrolle willen ... Wir werden nicht mehr gefesselt, uploads/Litterature/ zur-dialektik-operationaler-diagnostik.pdf
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- Publié le Jan 28, 2022
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