Zeit und Selbst I Wie hängt das Zeit-Thema mit dem früheren der Selbstbewußtsei

Zeit und Selbst I Wie hängt das Zeit-Thema mit dem früheren der Selbstbewußtseins-Theorien zusammen? Nicht etwa so, daß 'Zeit' an und für sich in einen Bewußtseins- Kontext gehörte. Es gibt, neben den physikalistischen, auch spezifisch metaphysische Theorien - etwa bei Aristoteles oder Hegel - , in denen gar nicht daran gedacht wird, 'Zeit' mit dem Bewußtseins-Thema zu verknüpfen. Selbst Kant, für den doch die Zeit eine apriorische 'Form der Anschauung' ist, kommt nicht auf den Gedanken, sie mit dem Selbstbewußtsein zu verknüpfen. Ganz im Gegenteil ist er davon überzeugt (KrV A 90/1), daß wir zeitlich gegliederte Anschauungen haben können ohne alles Selbstbewußtsein, das heißt: ohne den Gedanken 'Ich denke' ins Spiel zu bringen. Das hängt natürlich mit seiner dualistischen Grundorientierung zusammen, wonach es zwei Stämme unseres Erkenntnisvermögens gibt: Sinnlichkeit und Verstand. Beide kennen ihr Apriori; das der Sinnlichkeit ist die Zeit (auch der Raum natürlich), dasjenige des Verstandes ist das Urteilsvermögen, aus dem die Kategorien entspringen. 'Selbstbewußtsein' ist aber Prinzip nur des Verstandes, nicht der Sinnlichkeit; und so glaubte Kant, das Selbstbewußtseins- und das Zeit-Thema säuberlich entflechten zu können. Kants Fall ist für unseren Gegenstand besonders lehrreich; und einer der Hauptvertreter der modernen Zeitphilosophie (Martin Heidegger) hat Kants zwiespältigem Verhältnis zur Thema 'Zeit' ein ganzes Buch gewidmet (Kant und das Problem der Metaphysik, vierte, erweiterte Auflage, Ffm. 1973; vgl. auch die §§ 22 ff. des Marburger Kollegs über Logik, Gesamtausgabe Bd. 21, Ffm. 1976). Aus der rigiden Arbeitsteilung zwischen Sinnlichkeit und Verstand scheint ja zu folgen, daß Selbstbewußtsein (als Prinzip des Verstandes) ganz aus dem Bezug auf Zeit ausgenommen ist. Anders gesagt: Selbstbewußtsein, als gründend in einem unsinnlichen Erkenntnisstamm, ist unzeitlich verfaßt. Kant konnte sich gar nicht vorstellen, wie es anders seine berühmte Vereinigungsleistung am Sinnlich- Zeitlichen vollziehen könnte, wenn es selbst zeitlich und mithin in eine Abfolge von vorher- und nachher-Momenten differenziert wäre. Dann aber ergibt sich ein anderes Problem, das er in seinem berühmten und berüchtigt-dunklen Schematismus-Kapitel notdürftig zu lösen suchte (auf dies Kapitel bezieht sich dann vor allem Heideggers Kant-Destruktion). Wenn nämlich das Selbstbewußtsein unzeitlich (oder gar ewig) ist, wird unverständlich, kraft 2 welchen Mediums es mit dem Zeitlichen korrespondieren kann. Entweder müßte es selbst in sich zeitlich verfaßt sein oder aber die Zeit bei der Berührung mit sich selbst sozusagen verewigen. Zwischen diesen zwei Möglichkeiten, die aber für den kantischen Dualismus gleich desaströs wären, scheint es keinen Mittelweg zu geben. Also geschieht das erstere: das Selbstbewußtsein muß sich, um mit der Zeit zu korrespondieren, verzeitlichen. So drückt Kant das, wohlbemerkt, nicht aus; aber das ist die Konsequenz, der er nach Heideggers Meinung nicht entrinnt. Der Deutsche Idealismus hat zur Zeit keine prinzipiell freundlichere Einstellung als Kant. Der sogenannte absolute Geist faßt zwar auch seine Zeit in sich (oder in Gedanken); bei dieser Fassung verschwindet aber die Zeit im Begriff, sie wird darin aufgehoben. Bei Fichte und Schelling sind die Verhältnisse komplizierter (gerade Schelling hatte großartige Einsichten über die Zeit-Struktur, sie freilich zu seinen Lebzeiten nicht publiziert). Aber einen wirklichen Fortschritt hat das Thema 'Zeitbewußtsein' in der Frühromantik erlebt. Zwei Neuerungen charakterisieren das frühromantische Paradigma:1 Erstens ist der kantische Dualismus in einem neuen Monismus überwunden; zweitens wird Selbstbewußtsein nicht mehr wie bei Kant und Fichte (und auf andere Weise wieder bei Hegel) als Prinzip oder oberster Grundsatz der Philosophie gedacht. Die Relation, in der ein bewußtes Wesen im Selbstbewußtsein zu sich selbst steht, wird vielmehr für etwas Abkünftiges gehalten: für eine bloße relative Einheit, die die absolute zu ihrer Voraussetzung hat. Was, um zu existieren, ein anderes voraussetzt, kommt gleichsam zu spät, um Ansprüche auf einen Prinzip- Charakter geltend machen zu können. 'Zu spät' ist ein Zeitadverb; und sein Gebrauch kann uns lehren, daß ein Wesen, welches unter einer absoluten Voraussetzung existiert, in der Zeit existiert. Es hat, wie Schelling das formuliert, sein Sein nicht in sich, sondern in einem anderen, das sie abermals wieder nicht in sich hat, sondern in einem anderen, usw. Genau das ist die Struktur der Zeit, die einen Organismus aus Zukunft-Gegenwart-Vergangenheit bildet so, daß keine Phase ein selbstgenügsames Bestehen-in-sich hat, sondern etwas voraussetzt und von etwas Kommenden ihrerseits aus ihrer Position verdrängt wird. Novalis hat über die Etymologie von 'Voraussetzen' spekuliert und sich gefragt, ob einem Wesen, das nur unter einer heteronomen Voraussetzung existieren kann, nicht auch etwas nach-gesetzt werden müsse (Novalis, Schriften, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Stuttgart 1960 ff., [zit.: NS], Bd. III, 199, Nr. 282 und II, 591, Nr. 284): 1 Ich habe es ausführlich vorgestellt in meiner Einführung in die frühromantische Ästhetik, Ffm. 1989. 3 Ich muß allem etwas absolutes Voraussdenken - voraussetzen - Nicht auch Nachdenken, Nachsetzen? Vorurtheil. Vorsatz. Vorempfindung. Vorbild. Vor Fantasie. Project. Novalis war es auch, der zuerst auf die "bedeutungsvolle Etymologie des Wortes" 'Existenz' aufmerksam gemacht hat. Zeitlich verfaßte Bewußtseine ek- sistieren, d.h. sie haben (wie Novalis sagt) "ein Seyn außer dem Seyn im Seyn" (l.c., II, 106, Nr. 2). Anders: zeitlich ist, was sein Sein nicht in sich, sondern in einem anderen hat, für das die gleiche Bedingung gilt. Oder auch: zeitlich ist, was die Möglichkeit seines Seins (sein Wesen) nie adäquat in seiner Wirklichkeit ausdrücken kann. So löst sich die vermeintliche Instantaneität oder gar Ewigkeit des Selbst auf zugunsten einer Kontinuität von Momenten, die die undarstellbare Einheit als einen Vergangenheits-Zukunfts-Organismus verzeitlichen. Die Zeit ist nicht mehr (nur) Thema des Bewußtseins, sie dringt ein in dasselbe und zersetzt es in einen Fluß. Die romantische Zeitspekulation hat in der modernen Philosophie wirkungsgeschichtlich keine Rolle gespielt; sie war weitgehend unbekannt. Dem Gedanken, daß die Zeit das Bewußtsein selbst durchsetzt und zersetzt, hat erst Husserl in seinen Göttinger Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1904/5) zum Durchbruch verholfen. Das ist erstaunlich, war doch Husserl ein besonders eminentes Beispiel für die Präsenz-Fixierung, die Heidegger der europäischen Philosophie vorwarf, und geht es ihm doch allenthalben um ideale Objektivitäten, Ausklammerung der Existenz, ja der Welt selbst und Konzentration auf reine 'selbstgegebene' Bewußtseinsbefunde. Im § 81 des Ersten Buchs der Ideen, überschrieben "Die phänomenologische Zeit und das Zeitbewußtsein" finden wir folgendes überraschende Eingeständnis: Zeit ist übrigens, wie aus den später nachfolgenden Untersuchungen hervorgehen wird, ein Titel für eine völlig a b g e s c h l o s s e n e P r o b l e m s p h ä r e und eine solche von ausnehmender Schwierigkeit. Es wird sich zeigen, daß unsere bisherige Darstellung gewissermaßen eine ganze Dimension verschwiegen hat und notwendig verschweigen mußte, um unverwirrt zu erhalten, was zunächst allein in phänomenologischer / Einstellung sichtig ist, und was unangesehen der neuen Dimension ein geschlossenes Untersuchungsgebiet ausmacht. Das transzendentale "Absolute", das wir uns durch die Reduktionen herauspräpariert haben, ist in Wahrheit nicht das Letzte, es ist etwas, das sich selbst in einem gewissen tiefliegenden und völlig eigenartigen Sinn konstituiert und seine Urquelle in einem letzten und wahrhaft Absoluten hat. 4 Zum Glück können wir das Rätsel des Zeitbewußtseins in unseren vorbereitenden Analysen außer Spiel lassen, ohne ihre Strenge zu gefährden (Husserliana III, 197/8). Hier gibt Husserl also selbst zu, seine "phänomenologische Fundamentalbetrachtung" habe "eine ganze Dimension verschwiegen". Welche? Sie suchte ein "absolutes Sein" zu begründen und glaubte, dies dort gefunden zu haben, wo fast alle moderne Philosophie es suchte, im "Bewußtsein" (vgl., Ideen I, § 49). Alle mögliche 'hyletischen' und anderen Materien fielen Stück um Stück unter den Hieben der berühmten phänomenologischen Reduktion (oder !"#$%) - doch die fundamentalste Dimension ließ sie stillschweigend beiseite. Und welchen Grund gibt Husserl dafür an? Daß die Betrachtung die Dimension jener "Urquelle" "verschwiegen hat und notwendig verschwiegen mußte, um unverwirrt zu erhalten, was zunächst allein in phänomenologischer Einstellung sichtig ist". Dieser Verwirrung müssen w i r uns im Verlauf unserer Überlegungen aussetzen. Wir stoßen dabei auf einen Bezirk, den Husserl noch fundamentaler oder noch absoluter nennt als das Fundament oder als das Absolutum, für das er in der cartesianischen Tradition das Bewußtsein hielt. Nur ist das noch fundamentalere Fundament, auf das er nun stößt und an dessen Härte sich sein spekulativer Spaten umbiegt, selbst nicht ein anderes als Bewußtsein, sondern selbst Bewußtsein. Das Aufregende an seinen Göttinger Vorlesungen und Nachträgen zu ihnen aus den Jahren 1906-1917 ist dies, daß er die Zeitlichkeit ins Bewußtsein selbst einführt. Zeit ist nicht länger nur Thema des Bewußtseins; das Bewußtsein, das Zeit zum Thema machen will, dauert selbst - das Bewußtsein von Zeit ist selbst zeitlich. Und daraus (unter anderem) hat Peter Bieri (in seinem ausgezeichneten Buch über Zeit und Zeiterfahrung, Ffm. 1972) auf die Realität der Zeit geschlossen. Husserls Überlegungen zum Thema des Zeitbewußtseins sind uns im X. Band der Husserliana überliefert. Rudolf Boehm, der Herausgeber, hat die nachgelasssenen handschriftlichen Originale unter dem Titel "Ergänzende Texte zur Darstellung der Problementwicklung" im Teil B (137 ff.) zugänglich gemacht. Husserl selbst hatte zu Lebzeiten Edith Stein mit der Sichtung und Lesbar- Machung derselben beauftragt; und was sie, durch Neu-Zusammenfügung, stilistische Verbesserungen und zahlreiche redaktionelle Eingriffe aus den Originalen gemacht hat, liegt uns vor in den (1928 von Martin Heidegger im IX. Band des Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung erstmals edierten) "Vorlesungen zur Phänomenologie des ineneren Zeitbewußtseins (1893- 1917)". Ihnen sind uploads/Litterature/ zeit-und-selbst.pdf

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