BEWEISBILDER Über epistemische Funktionen von Bildern Von Thomas Zingelmann 1.
BEWEISBILDER Über epistemische Funktionen von Bildern Von Thomas Zingelmann 1. Einleitung S. 1 2. Bild und Episteme S. 5 2.1.1 Die Zeichenhaftigkeit des Bildes: Bild und Indexikalität S. 5 a) Grundzüge semiotischer Bildtheorie S. 5, b) Peirce und das indexikalische Zeichen S. 8, c) Bildtheorien der Indexikalität S. 17 2.1.2 Zeigen mit Bildern: Existenzbeweise S. 31 2.2.1 Die Sichtbarkeit des Bildes: Sehen statt lesen S. 41 a) Das Bildobjekt als Phantom S. 43, b) Bloße Sichtbarkeit: Fiedler S.45, c) Prinzip der Substitution: Gombrich S. 47 2.2.2 Zeigen mit Bildern: piktoriale Augenzeugenschaft S. 49 3. Schluss S. 53 Literaturverzeichnis Eigenständigkeitserklärung 1 1. Einleitung „Ein Bild [...] zeigt mehr als tausend Worte sagen können.“1 Bilder sind aus dem Alltag nicht wegzudenken. Das ist kein Geheimnis und wurde vermehrt auch schon konstatiert2. Anders ließen sich Redeweisen, wie von einer „alltäglichen Bilderflut“3, nicht erklären. Von diesem Standpunkt aus ist es daher auch nicht verwunderlich, dass man in gesellschaftlichen Bereichen, in denen es um epistemische Prozesse geht, wie Wissensgenerierung und Beweisführung, vermehrt mit Bildern zutun hat oder zumindest mit Medien, welche gerade wegen ihrer spezifischen Visualität eine besondere Stellung genießen, beispielhaft wären dies Diagramme und Graphen, die aber, wie Lambert Wiesing zeigt, keine Bilder sind4. Heßler und Mersch stellen berechtigterweise folgende Frage: „Lassen sich tatsächlich unterschiedliche visuelle Darstellungsformen wie Illustrationen, Veranschaulichungen, Diagramme, Modelle, Karten, Computerbilder oder statistische Tabellen unter dem einheitlichen Begriff des „Bildes“ subsumieren?“5 Es lässt sich auf folgende einfache Formel bringen: Alles was bildlich ist sichtbar, aber nicht alles was sichtbar ist, ist ein Bild. Die Visualisierungstendenz in den Wissenschaften bedeutet nicht, dass alles bildlich ist, was dort benutzt wird. „Sie [die Bilder] erklären Abläufe, Entwicklungen und Funktionsmechanismen, sie bilden Beweismittel und Belege, […] vor allem aber dienen sie als Analysewerkzeuge zur Erkenntnisgewinnung.“6 Die wohl offensichtlichsten gesellschaftlichen Bereiche, in denen man vermehrt mit Bildern zutun hat sind die Jurisprudenz und die Medizin in ihrer gesamten Breite. Die bildgebenden Verfahren in der Medizin – am prominentesten wohl 1 Gottfried Gabriel, „Der Erkenntniswert der Bilder“, in: Ulrich Nortmann und Christoph Wagner 2 Vgl. Stephan Günzel, „Bildlogik – Phänomenologische Differenzen visueller Medien“, in: Martina Heßler und Dieter Mersch, Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 123-138. 3 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie,Frankfurt a.M. 1989, S. 87. 4 Vgl. Lambert Wiesing, „Ornament, Diagramm, Computerbild. Phänomene des Übergangs. Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Lambert Wiesing“, in: Horst Bredekamp und Gabriele Werner, Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 3.1 Diagramme und bildtextile Ordnungen, Berlin 2005, S. 115-129, hier S. 123ff. 5 Martina Heßler und Dieter Mersch, „Bildlogik“, in: Dies., Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S.8-62, hier S. 17 6 Martina Heßler und Dieter Mersch, „Bildlogik“, S. 15. 2 die Nuklear-, Röntgen- und Ultraschalldiagnostik – sind nicht mehr wegzudenken: „Neuere bildgebende Verfahren in der Medizin (Röntgen, Ultraschall, MRT, PET, SPECT usw.) überwinden das Hindernis der unmittelbaren Sichtbarkeit und enthüllen Projektionen einer dem Auge verborgenen Wirklichkeit.“7 Ohne den Einsatz dieser Verfahren würde es vielen Menschen wahrscheinlich sehr schlecht gehen. Ebenso in der Jurisprudenz: Die Aufzeichnungen der Überwachungskameras, die Fotos vom Tatort, wenn nicht sogar der Tat selber, die den Täter womöglich überführen, sind wichtige Bestandteile – wenn vorhanden – in der juristischen Beweisführung. Wie viele Autos wohl als gestohlen gemeldet wären, gäbe es keine Radarfotos? Es gibt unzählige Beispiele, an denen sich die Relevanz von Bildern aufzeigen ließe – und einige werden im Verlauf der vorliegenden Arbeit auch immer wieder als Beispiel dienen. Es lässt sich sehen, dass mit der Verwendung von Bildern oft ein Erkenntnisanspruch einhergeht: Bilder lassen sich epistemisch funktionalisieren, zumindest dem Anspruch nach: Die Jurisprudenz will z.B. Schuld oder Unschuld eines Angeklagten beweisen, die medizinische Diagnostik will die den Symptomen zugrundeliegende Ursache erkennen, in der Politik will man einen Krieg rechtfertigen. Und hierfür werden oftmals Bilder verwendet: Das Foto des Nachbarn, das den Angeklagten des Mordes überführen soll; die MRT-Aufnahme, mit welcher die Bandruptur im Sprunggelenk als Ursache für Schmerzen, Schwellung und Hämatom gezeigt werden kann; die Satellitenfotos, mit welchen die Existenz von vermeintlichen mobilen Fabriken zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen bewiesen werden soll. Die Frage, die sich dabei zwangsläufig auftut – insoweit man ein philosophisches Interesse hat –, ist, welche Gründe gibt es, mit denen behauptet werden kann, dass Bilder epistemische Funktionen erfüllen und dementsprechenden Zwecken eignen. Auch hier ist es ein Gemeinplatz, dass aufgrund einer Digitalisierung8 der Bildproduktion und der damit einhergehenden Manipulierbarkeit von Bildern 7 Walter Oberschelp, „Bild und Wirklichkeit“, in: Dominik Groß und Stefanie Westermann (Hrsg.): Vom Bild zur Erkenntnis? Visualisierungskonzepte in den Wissenschaften, Kassel 2007, S. 29-46, hier S. 30. 8 Vgl. Birgit Schneider, „Wissenschaftsbilder zwischen digitaler Transformation und Manipulation“, in: Martina Heßler und Dieter Mersch, Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 188-200. 3 das, was als „pikturale Evidenz“ 9 beschrieben wird, an Glaubwürdigkeit verliert: „Im Zeitalter ihrer digitalen Produzierbarkeit erlischt der Anspruch des Bildes auf visuelle Kronzeugenschaft.“10 Diejenigen, die Bilder zu diesen Zwecken verwenden, müssen sich notwendigerweise mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit Bilder ein sicheres Erkenntnismittel sind. Allerdings war diese Frage auch schon aktuell bevor man die Möglichkeit der Bildmanipulation hatte, denn welche Gründe sprechen überhaupt dafür, dass Bilder zu Zwecken des Beweisens, Argumentierens und Rechtfertigens geeignet sind? Man hat es mit einer bemerkenswerten Situation zutun: Im Alltag ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Bilder in epistemischer Hinsicht verwendet werden, nicht umsonst spricht man – und das in bedenklicher Weise oft in Boulevardzeitschriften – von „Beweisbildern“11. Redeweisen in den Medien von „angeblichen Beweisbildern“ 12 sind exemplarisch für die Gesamtsituation: Man nimmt an, dass Bilder epistemischen Zwecken dienlich sind, ohne genaue Gründe angeben zu können – und auch ohne zu müssen –, warum. Viel eher hat man es mit impliziten Annahmen und kurzen Exkursen zutun. Die Forschungsliteratur, welche sich explizit mit dem Verhältnis von Bild und Episteme auseinandersetzt, ist überschaubar. Man hat es mit einer wirren Situation. An diesem Punkt wird angesetzt: Die vorliegende Arbeit soll ein Vorschlag sein, wie der bisherige Forschungsstand systematisiert werden kann. Es soll untersucht werden, welche Argumentationsstrategien es gibt, um die Behauptung, dass man Bilder in epistemischer Hinsicht verwenden kann, begründen zu können. Denn: Wenn man beispielsweise behauptet, dass Bilder beweisen können oder Bilder Beweise sind, dann muss man auch begründen können, wie dies möglich ist. Es wird folgender Vorschlag für eine 9 Ludger Schwarte, Pikturale Evidenz. Zur Wahrheitsfähigkeit der Bilder, Paderborn 2015. 10 Beat Wyss, Vom Bild zum Kunstsystem, Köln 2006, S. 22. 11 Eine Auswahl: „Torlinientechnik entfacht neue Diskussion: Beweisbilder verwirren“, in: Hamburger Abendblatt, 16.06.2014, abrufbar unter: http://www.abendblatt.de/sport/fussball/wm- 2014/article129118925/Torlinientechnik-entfacht-neue-Diskussion-Beweisbilder-verwirren.html; „ ‚Curiosity’ schickt Beweisbilder: Mars-Landschaft ähnelt der Erde“, in: RP-Online, 9.8.2012, abrufbar unter: http://www.rp-online.de/panorama/wissen/weltraum/mars-landschaft-aehnelt-der-erde- aid-1.2944717; „Rihanna nascht wieder – Neue Beweisbilder“, in: Viply, 29.3.2012, abrufbar unter: http://www.viply.de/?p=59398. (10.10.15). 12 „MH17-Ermittler und ihre Theorien“, in: Süddeutsche Zeitung, 17.7.2015, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/abschuss-der-mh-viele-ermittler-viele-theorien-1.2569489-2. (10.10.15) 4 Systematisierung gemacht: Bilder üben dann epistemische Funktionen aus, wenn man sie auf eine bestimmte Art und Weise verwendet. So kann der bisherige Forschungsstand in zwei Positionen eingeteilt werden: 1. Bilder üben dann epistemische Funktion aus, wenn man sie als Index verwendet. 2. Bilder üben dann epistemische Funktionen aus, wenn man sie als Substitut verwendet. Es geht also um die Frage, was man mit einem Bild machen muss, wenn man beispielsweise mit ihm etwas beweisen will. Wie muss ein Mensch ein Bild verwenden, sodass es sich für die jeweiligen epistemischen Zwecke eignet. Es wird hier der Vorschlag eines pragmatistischen Kriteriums gemacht. Das aus einem einfachen Grund: Typische epistemische Funktionen wie Beweisen, Rechtfertigen und Argumentieren sind menschliche Tätigkeiten. Wenn Menschen beweisen, dann machen Menschen etwas auf eine bestimmte Art und Weise. Da Bilder keine Subjekte sind und dementsprechend nicht handeln können, ist es naheliegend die Annahme zu vertreten, dass will man Bilder epistemisch funktionalisieren, man sie auf eine bestimmte Art und Weise benutzen muss. Um dieser Frage und einer Systematisierung möglichst erfolgreich nachzugehen, soll wie folgt vorgegangen werden: Im ersten Abschnitt des 2. Kapitels soll die Position der indexikalischen Verwendungsweise des Bildes hinsichtlich epistemischer Zwecke herausgearbeitet werden. Dafür sollen zuerst die Grundlagen der Zeichentheorie sowie des indexikalischen Zeichens erarbeitet werden. Daran schließt sich eine Rekonstruktion derjenigen Theorien an, welche versuchen das Verhältnis von Bild und Indexikalität zu bestimmen. Die daraus gewonnen Ergebnisse werden die Grundlage für die Systematisierung aktueller Debattenbeiträge hinsichtlich einer indexikalischen Verwendungsweise des Bildes bilden. Im zweiten Abschnitt des 2. Kapitels soll dann die substituierende Verwendungsweise des Bildes hinsichtlich epistemischer Zwecke systematisiert werden. Dafür soll in ähnlicher Weise wie bei der indexikalischen Position vorgegangen werden. Es gilt zuerst die Grundlagen des wahrnehmungstheoretischen oder auch phänomenologischen Ansatzes 5 in der Bildtheorie zu rekonstruieren sowie Fiedlers besondere Bestimmung des Bildobjekts. Darauffolgend soll der Begriff der Substitution wie er bei Gombrich vorkommt nachgezeichnet werden. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Position der substituierenden Verwendungsweise des Bildes eine Verknüpfung des wahrnehmungstheoretischen Ansatzes Fiedlers mit der pragmatistischen Theorie Gombrichs versucht zu vollziehen. Nachdem diese grundlegenden Begrifflichkeiten geklärt worden sind, soll es darum gehen, das Augenzeugenprinzip Gombrichs zu rekonstruieren, um den Aktualisierungsversuch Wiesings aufzeigen zu können, welcher die Grundlage der substituierenden ist. Nachdem diese beiden Positionen herausgearbeitet wurden soll zum Schluss uploads/Geographie/ beweisbilder-uber-epistemische-funktion.pdf
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- Publié le Dec 11, 2022
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