Idiomatische Kompetenz: Phraseme und Phraseologie im DaF-Unterricht Claus Ehrha
Idiomatische Kompetenz: Phraseme und Phraseologie im DaF-Unterricht Claus Ehrhardt, Universität Urbino ISSN 1470 – 9570 Idiomatische Kompetenz 1 gfl-journal, No. 1/2014 Idiomatische Kompetenz: Phraseme und Phraseologie im DaF- Unterricht Claus Ehrhardt Der Beitrag beschäftigt sich mit der Bedeutung von Phrasemen für den DaF-Unterricht und möglichen Konsequenzen aus den Erkenntnissen der Phraseologie für die DaF- Methodik und Didaktik. Er präsentiert einige einschlägige Forschungsergebnisse der phraseologischen Diskussionen und diskutiert auf dieser Grundlage den Begriff der idiomatischen Kompetenz; diese wird als wichtiger Bestandteil der umfassenderen kommunikativen Kompetenz dargestellt. Ihre Bedeutung für den Fremdsprachen- unterricht wird häufig verkannt oder unterschätzt. Der Beitrag plädiert daher für eine stärkere Einbindung der Auseinandersetzung mit Phrasemen in den DaF-Unterricht und diskutiert mögliche Leitlinien für die Realisierung dieses Anliegens. 1. Einleitung Die Phraseologie als linguistische Teildisziplin war in den letzten Jahren sehr produktiv – das haben nicht zuletzt die einschlägigen HSK-Bände dokumentiert (Burger et al. 2007). Sie hat große Erkenntnisfortschritte gemacht und hat bewiesen, dass sie einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann, das Sprachsystem und seinen Gebrauch in der Kommunikation besser zu verstehen. Die Erkenntnisse der Phraseologie sind aber noch nicht in angemessenem Ausmaß in der Unterrichtspraxis DaF angekommen. Im Vergleich zum theoretischen Entwicklungsstand der phraseologischen Diskussion und vor allem zur Relevanz von Phrasemen in der Kommunikation gibt es bisher noch sehr wenige didaktische Konzepte zu ihrer Einbindung in den DaF-Unterricht. Dieser Beitrag soll eine Anregung sein, das zu ändern. Er wird für die These argumentieren, dass die Kenntnis von Phrasemen – oder auch Phraseologismen – eine wichtige Komponente der kommunikativen Kompetenz darstellt, dass diese bisher aber im Fremdsprachenunterricht und in fremdsprachendidaktischen Diskussionen unterschätzt wird. Daraus folgt ein Plädoyer für die stärkere Berücksichtigung solcher Phänomene im DaF-Unterricht und in der diesbezüglichen Methodik und Didaktik. Wenigstens ansatzweise wird es auch darum gehen, zu reflektieren, wo die spezifischen didaktischen Probleme bei der Vermittlung von Phrasemen liegen und welche Claus Ehrhardt 2 gfl-journal, No. 1/2014 Strategien Autoren von Lehrwerken und anderem Unterrichtsmaterial anwenden können, um diese Probleme zu überwinden. Der erste Teil bietet einen kurzen Überblick über den Gegenstandsbereich der Phraseologie – er soll die Antwort auf die Frage sein, was der Gegenstand der Überlegungen sein wird. Wichtig ist insbesondere die Frage, welche Eigenschaften Phraseme ausmachen und wie sie von anderen sprachlichen Strukturen unterschieden werden können. Der zweite Teil setzt sich mit der Relevanz von Phrasemen in der Kommunikation auseinander. Hier werden zwei Aspekte berücksichtigt: Erstens die Frage, welche Meinungen und Einstellungen Kommunikationsteilnehmer gegenüber Phrasemen haben und was sie von Sprechern denken, die Phraseme verwenden. Phraseme werden hier also als Gegenstände öffentlicher Sprachreflexion und Sprachkritik beleuchtet. Es sei vorweggenommen, dass sie in diesem Bereich ein wichtiges Thema sind, aber keinen besonders guten Ruf genießen. Diese Sichtweise soll im Folgenden aus sprachwissenschaftlicher Sicht aufgenommen und relativiert werden. Ein unvoreingenommener und wissenschaftlich fundierter Blick auf Phraseme zeigt nämlich, dass diese ein unverzichtbarer Bestandteil von Äußerungen in allen Kommunikationskontexten und –domänen sind und dass sie eine wichtige Komponente der kommunikativen Kompetenz darstellen. Aus dieser „Ehrenrettung“ für Phraseme ergibt sich auch ihre Relevanz für den Fremdsprachenunterricht. Dieser wird schließlich im Mittelpunkt des dritten Teiles stehen. Er beschäftigt sich mit den spezifischen Problemen bei der Rezeption und Produktion von Phrasemen, die insbesondere bei Fremdsprachensprechern auftreten. Nach einem kurzen Überblick über bereits vorliegende Ansätze zur Phraseodidaktik werden schließlich einige Leitlinien für die Vermittlung von Phrasemen im DaF-Unterricht skizziert. 2. Phraseologie und Phraseme: Definitionen und Abgrenzungen Die Phraseologie beschäftigt sich mit Ausdrücken wie den folgenden: (1) etw. auf dem Bildschirm haben (2) sowohl A als auch B (3) purer Zufall (4) etw. zur Anzeige bringen Idiomatische Kompetenz 3 gfl-journal, No. 1/2014 (5) das kleine Schwarze (6) Noch ist nicht aller Tage Abend. (7) Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört. (8) Kennst du schon den: …. (9) Schönes Wochenende! (10) mit jmdm. ein Hühnchen zu rupfen haben (11) jmdm. reinen Wein einschenken Auf den ersten Blick wird deutlich, dass der Gegenstandsbereich der Phraseologie ein sehr heterogenes Feld ist. Das betrifft zuerst einmal die syntaktische Form: Vollständige Sätze wie (6) gehören ebenso dazu wie satzgliedwertige Ausdrücke (z.B. 1, 5) und mehrgliedrige Konjunktionen wie (2). Unterschiede lassen sich aber auch im Hinblick aus die kommunikative Funktion erkennen: So dient (5) vor allem der Bezugnahme auf einen bestimmten Typ von Kleidungsstück, mit Ausdrücken wie (8) leitet der Sprecher gewöhnlich eine bestimmte Art von Erzählung ein, mit (9) vollzieht man eine bestimmte Sprechhandlung. Diese Heterogenität ist eine der größten theoretischen Schwierigkeiten und Herausforderungen der Phraseologie. Es haben sich in der Tat sehr unterschiedliche Definitions- und Klassifikationssysteme herausgebildet. Weitgehende Einigkeit herrscht aber in der Bestimmung von drei relevanten Eigenschaften, die allen Phrasemen zukommen und die diese von anderen Arten von sprachlichen Ausdrücken unterscheiden (vgl. z.B. Burger 2003; Fleischer 1997; Donalies 2009). Phraseme bestehen, erstens, aus mehr als einem Wort; sie sind polylexikal. Mit diesem Kriterium wird die Phraseologie „nach unten“, von der Wortbildungslehre abgegrenzt. Die Unterscheidung ist aber im Einzelfall nicht immer einfach und daher umstritten. Zweifellos ergeben sich Überschneidungen mit der Wortbildung, schon weil Phraseme semantisch oft das Gleiche leisten wie Komposita – diese sind in gewisser Weise ja auch polylexikal. Trotzdem werden sie von der Phraseologie im Allgemeinen nicht untersucht. Ausgeschlossen werden auch synthetische Verbformen oder feste Verbindungen von Verb und Präposition. Diskutiert wird, ob ein Phrasem mindestens ein Autosemantikon enthalten muss (vgl. Donalies 2009: 8). Das würde bedeuten, dass (2) nicht als Phrasem zu betrachten ist. Viele Phraseologen differenzieren hier aber Claus Ehrhardt 4 gfl-journal, No. 1/2014 nicht zwischen Auto- und Synsemantika und beziehen mehrgliedrige Konjunktionen in ihre Überlegungen ein (vgl. Burger 2003: 16). Schwierig ist es auch, den funktionalen Unterschied zwischen Hallo und dem mehrgliedrigen Guten Tag festzustellen. Auch das spricht dagegen, die Untergrenze der Phraseologie zu schematisch zu ziehen und auf der Polylexikalität als Abgrenzungskriterium zu beharren. Ein weiteres Problem stellt die Obergrenze dar, die Frage also ob Phraseme tatsächlich Satzstatus haben oder noch umfangreicher sein können. Stein (1995) und einige andere Phraseologen (vgl. Burger 2003: 15) vertreten hier die Auffassung, dass es auch formelhafte Texte gibt, die nach den gleichen Kriterien und auf der Grundlage der gleichen Begriffe und Methoden untersucht werden müssen, wie Phraseme - etwa Formulartexte oder Danksagungen. Das zweite Kriterium ist die Festigkeit. Damit ist einfach gemeint, dass die Komponenten des Phrasems signifikant häufig in genau dieser Kombination auftreten und dass der Austauschbarkeit einzelner Komponenten eines Phrasems enge Grenzen gesetzt sind, wenn man nicht die Bedeutung verändern will. Auch wenn man eine Komponente durch ein nahezu synonymes Wort ersetzt, funktioniert das Phrasem nicht mehr: (12) Das Verhalten der Kanzlerin ist Wasser auf die Mühlen der Opposition. (12’) Das Verhalten der Kanzlerin ist H2O auf die Mühlen der Opposition. Das Beispiel (12’) könnte vielleicht als ironisches Sprachspiel gebraucht werden und verständlich sein, die Bedeutung der Äußerung unterscheidet sich aber stark von (12). Der phraseologische Wert der Wendung kann nur dann realisiert werden, wenn der Sprecher die entsprechenden Komponenten ohne Variation verwendet. Die Wortverbindungen sind so stabil, dass die in mancher Hinsicht eher Lexemen als Syntagmen ähneln. So weist Burger darauf hin, „[…] daß man einen Phraseologismus „kennt“, so wie man ein Wort „kennt“, und dass er „gebräuchlich“ ist wie ein Wort.“ (Burger 2003: 16) Die Festigkeit von Phrasemen ist dann auch das zentrale Kriterium für ihre Unterscheidung von nicht-phraseologischen Wortgruppen oder freien Wortverbindungen/ Syntagmen. Festigkeit kann allerdings nur als relative Festigkeit beschrieben werden. Der Modifikation von einzelnen Komponenten oder auch ganzen Phrasemen in Wortwitzen, Wortspielen und anderen Beispielen kreativer Sprachverwendung sind keine Grenzen gesetzt. In der Phraseologie hat sich deswegen für den Untersuchungsgegenstand die Idiomatische Kompetenz 5 gfl-journal, No. 1/2014 Bezeichnung „Wortverbindungen – mehr oder weniger fest“ durchgesetzt, die auch zum Titel eines viel zitierten Sammelbandes (Steyer 2004) geworden ist. Die dritte und letzte hier relevante Eigenschaft von Phrasemen ist auch die schwierigste und facettenreichste: die Idiomatizität oder auch Nicht-Kompositionalität der phraseologischen Bedeutung. Vor allem für Fremdsprachenlerner liegt darin ein Problem: Wenn ein Lerner weiß, was ein Korb ist und was geben bedeutet, dann versteht er noch lange nicht, was gemeint ist, wenn ihm jemand sagt Sie wird dir einen Korb geben. Die Bedeutung des Phrasems jmdm. einen Korb geben lässt sich nicht aus der wörtlichen Bedeutung der Komponenten ableiten. Solche Ausdrücke weisen also eine semantische Anomalie auf, eine ganzheitliche oder phraseologische Bedeutung, die mit dem Begriff ‚Idiomatizität’ erfasst wird. Sie gilt nicht als notwendige Eigenschaft von Phrasemen – es gibt auch nicht-idiomatische wie Routineformeln (oder pragmatische Phraseme) oder feste Verbindungen von Lexemen, die als Kollokationen klassifiziert werden. „Purer Zufall“ (Bsp. 3) ist ein Beispiel dafür. Idiomatizität ist außerdem ein graduelles Phänomen. Es gibt mehr oder weniger idiomatische und damit mehr oder weniger motivierbare Phraseme. Motivation oder Motivierbarkeit erweist sich als „Kehrseite“ der Idiomatizität. Die Phänomene verhalten sich umgekehrt proportional zueinander: Je höher der Grad an Motivierbarkeit, desto niedriger die Idiomatizität (vgl. Roos 2001: 156f.). Ausdrücke wie jmdm. Feuer unter den Hintern machen sind schon weniger idiomatisch als jmdm. einen Korb geben. Die phraseologische Bedeutung lässt sich auf eine Metapher zurückführen und ist insofern motivierbar. Für Fremdsprachenlerner ist das schon leichter durchschaubar – zumindest dann, wenn sie für solche Phänomene sensibilisiert werden uploads/Litterature/ ehrhardt-claus-idiomatische-kompetenz-phraseme-und-phraseologie-im-daf-unterricht.pdf
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- Publié le Sep 26, 2022
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